WINTERDIEB

URSULA MEIER | REGIE

2012 WINTERDIEB (SISTER | L’ENFANT D’EN HAUT) Spielfilm
2008 HOME Spielfilm
2002 DES ÉPAULES SOLIDES Fernsehfilm Arte
2001 PAS LES FLICS, PAS LES NOIRS, PAS LES BLANCS Dokumentation
2001 TOUS À TABLE Kurzfilm
2000 AUTOUR DE PINGET Dokumentation
1998 DES HEURES SANS SOMMEIL Kurzfilm
1994 LE SONGE D’ISAAC Kurzfilm


INTERVIEW MIT URSULA MEIER


EINE ERINNERUNG

Als ich schon länger an der Geschichte von WINTERDIEB gearbeitet hatte, fiel mir plötzlich wieder ein kleiner Junge ein. Ich wuchs am Fuß der Berge des Jura auf, wo es sehr normal und alltäglich war, im Winter zum Skifahren auf die Berge hochzufahren. Da gab es einen Jungen, der immer alleine Ski fuhr, während wir immer mit einer ganzen Gruppe kamen. Er konnte nur sehr schlecht Skilaufen, raste aber die Berge hinunter, als berausche ihn die Geschwindigkeit und das Risiko. Dass er sich „dort oben“ aufhalten konnte, schien ihm großes Vergnügen zu bereiten. Der Junge weckte meine Neugier, bis ich herausfand, dass er verdächtigt wurde, die Besucher zu bestehlen und deshalb Hausverbot in den Berg-Restaurants hatte. Die Angestellten der Bergstation empfahlen uns, auf unsere Sachen aufzupassen und uns von ihm fernzuhalten. Aber dieser kleine Junge faszinierte mich weiterhin, vielleicht weil er so gar nicht in diese Umgebung passte und nicht aus der sozialen Klasse kam, die sich die Skiausrüstung und Liftpässe leisten kann. Seine Diebstähle gingen weiter, so lange, bis er nicht mehr mit der Seilbahn in das Skigebiet fahren durfte.
Dieser junge Dieb, ohne Freunde, der wie ein Verrückter auf den schneebedeckten Pisten des Jura Ski lief, blieb ein ungelöstes Rätsel für mich. Ich war knapp 12 Jahre alt damals – so alt wie Simon im Film –, und ich erinnere mich noch immer an ihn.

EIN VERTIKALER FILM

Nachdem ich einen horizontalen Film gedreht hatte – „Home“ (ebenfalls im ARSENAL FILMVERLEIH), der auf einer Autobahn spielt, eine Parallelwelt nur wenige Meter vor dem Fenster eines Familienhauses – wollte ich einen vertikalen Film machen, der um die beständige Bewegung zwischen unten und oben, zwischen dem industriellen Tal und der Bergstation oben herum aufgebaut ist. Die Verbindung zwischen diesen beiden Welten ist die Seilbahn, die durchs Nichts von der einen die andere gleitet, in das Licht aufsteigt, und dann wieder unter die Wolken absteigt. Oben sind die reichen Touristen, die aus allen Ecken der Welt kommen, um auf den schneebedeckten Pisten in der Sonne Spaß zu haben. Unten liegt das industrielle Tal ständig im Schatten, der Schnee ist geschmolzen, aus den Kaminen wird bald kein Rauch mehr aufsteigen und die Sozialwohnungsblöcke liegen isoliert am Fuß der Berge.
Genau wie in „Home“ ist die Geschichte unauflöslich mit dem Drehort verbunden, der nicht nur der Ausstattung dient, sondern selbst die Geschichte erzählt. Für mich ist es essenziell, bereits zu Beginn einer Geschichte die Form und die Energie des Films zu finden, das, was ihn trägt, was seinen Kern ausmacht. Es gibt nicht den Inhalt einer Geschichte auf der einen Seite und auf der anderen ihre Form, sondern eine besondere Chemie zwischen beiden, die von Beginn des Projekts und des Drehbuch ins Spiel kommt.

ZWISCHEN OBEN UND UNTEN

WINTERDIEB erzählt die Geschichte eines Jungen, der auf jeder Ebene nach oben will: in physischer, sozialer und finanzieller Hinsicht. Während die Welt unten nur trostlos, schmutzig und neblig ist – sowohl wörtlich als auch im übertragenen Sinn – gibt es oben alles im paradiesischen Überfluss: Sonne, reinen weißen Schnee, Geld und Glamour. Simon fühlt sich dort oben bedeutender, wo er sich hinter den dunklen Gläsern seiner gestohlenen Skibrille verstecken kann. Es ist, als ob er auf einer Theaterbühne stünde, eine Rolle spielt, ein erfundenes Leben mit reichen Eltern verkörpert, im Rampenlicht und in einem Kostüm. Unten hat er eine miese Rolle inne, die er ohne zu murren akzeptiert, wohl wissend, dass es besser ist, eine unwichtige Rolle bei Louise zu spielen als gar keine.
Den ganzen Film fühlt sich Simon zwischen oben und unten hin- und hergerissen. Seine zahlreichen Fahrten mit der lokalen Seilbahn verbinden die industrielle Ebene mit dem Skigebiet, unterstreichen den Film und verleihen ihm seinen Herzschlag.
Während Simon erfolgreich versucht, nach oben zu kommen, wird Louise nach unten gezogen. Sie ist enttäuscht von der Arbeit und wütend auf die Männer, das Leben scheint es nicht gut mit ihr gemeint zu haben. Anstatt zu kämpfen und sich durchzusetzen, hat Louise sich dafür entschieden, auszusteigen, sich gehen zu lassen und nur noch in den Tag hinein zu leben. Sie versucht nicht, ihr Leben in den Griff zu kriegen, sondern flieht davor – immer dem Horizont entgegen, entlang der großen Bergstraße. Auf dieser Straße kam sie nach langer Zeit zurück. Der Punkt, an dem sich das Oben und das Unten treffen, die Seilbahn und die Bundesstraße (das Horizontale und das Vertikale), ist Simons Schließfach am Fuß der Seilbahn. Dieses Schließfach ist Simons Garderobe, wo er sich umziehen und verwandeln kann: entweder wieder zurück in den Jungen von unten oder in das Kind von oben, höflich, zuvorkommend in seinem Mittelklasse-Outfit, aber ein kleiner Dieb.

HINTER DEN KULISSEN

Die Geschichte handelt von einer ganzen Skisaison, von Weihnachten bis Ostern und blickt hinter die Kulissen dieser Tourismusindustrie, die ganz ernsthaft als „weißes Gold“ der Berge bezeichnet wird. Dass wir das Leben der Saisonarbeiter aus Simons Sicht kennenlernen, offenbart uns die andere Seite der Medaille. Auf diese Weise bietet WINTERDIEB einen einzigartigen Einblick in die Welt der Skiresorts, die im Kino sonst fast immer nur als Komödie oder als wunderschöne Landschaftsbilder der schneebedeckten Berge gezeigt wird.

GELD

Geld ist das Herzstück des Austausches zwischen den Charakteren des Films. Banknoten und Münzen wechseln von Hand zu Hand, von den Kindern der Ebene und den Saisonarbeitern zu Simon, von Simon zu Louise und wieder zurück von Louise zu Simon.
Obwohl sich Louise und Simon zu Beginn des Films in einer äußerst prekären finanziellen Situation befinden, ist WINTERDIEB kein Sozialdrama.
Simon ist ein Junge, der extrem viel Angst hat, etwas zu verpassen, und diese Angst mit überschwänglichen Aktivitäten betäubt. Der Handel mit gestohlenen Waren verschafft ihm eine gewisse Anerkennung.
Aus fürchterlichem Liebesmangel verschanzt sich Simon hinter Geld, das für ihn Ersatz für alles ist. Er entflieht seiner geldlosen Existenz im Tal indem er sich die Illusion eines anderen Lebens auf der Höhe erkauft. Er schließt sich der reichen englischen Touristenfamilie an, um für einige Stunden der Illusion eines Familienglücks nachzuhängen.
Aber dieses Geld, das ihn selbstsicherer macht, lässt ihn auch arrogant und verächtlich werden. Er benutzt die Macht, die ihm das Geld verleiht, und wird damit abstoßend für Louise, die er mit wenigen Geldscheinen kontrolliert. Er dachte, dass ihn das Geld Louise näherbringen würde, stattdessen entfernen sie sich nur noch weiter voneinander.