DIE UNERSCHÜTTERLICHE LIEBE DER SUZANNE

Regie Katell Quillévéré

FILMOGRAPHIE

2012 SUZANNE Eröffnungsfilm Semaine de la Critique, Cannes 2013
2010 UN POISON VIOLENT Jean-Vigo 2010, Quinzaine des Réalisateurs, Cannes 2010
2009 L’ÉCHAPPÉE, Kurzfilm 17 Min.
2007 L’IMPRUDENCE, Kurzfilm 13 Min.
2005 À BRAS LE CORPS Kurzfilm 19 Min. , nom. César 2007, Quinzaine des Réalisateurs, Cannes 2005


INTERVIEW mit Katell Quillévéré

In SUZANNE vermischten sich zwei unterschiedlich Erzählformen: die realistische Chronik und die romantische Fiktion, mit denen mehr als 25 Jahre beobachtet werden.
Ja, der Film spaziert an der Grenze dieser beiden Erzählformen entlang. Ich glaube, dass ein Film seine Ästhetik in diesem Widerspruch findet, wenn zwei sehr verschiedene Annäherungen sich treffen und aufeinander prallen. Wenn alles immer in eine Richtung zeigt, wird das schnell langweilig.

Wie kamen Sie auf den Charakter der Suzanne?
Mein Lebensgefährte las zahlreiche Bücher über französische Staatsfeinde wie Mesrine, Besse oder Vaujor und gab mir die Autobiografien ihrer Frauen. Ich war fasziniert von der Haltung dieser Frauen. Sie waren extrem mutig, und unterwarfen sich gleichzeitig in fast selbstmörderischer Weise ihren Männern. Die ersten Kapitel ihrer Bücher handelten alle von ihrer Kindheit und Jugend, auf der Suche nach Vorfällen, ohne wirklich welche zu finden,, die dieser Entwicklung ihres Lebensweges Sinn geben würden und diese lebensverändernden romantischen Begegnungen erklären könnten. Warum stolperten sie über diese Männer und verliebten sie sich so sehr in sie, dass sie ihr Schicksal komplett mit dem der Männer verknüpften und für sie Sprengstoff ins Gefängnis schmuggelten oder lernten, einen Helikopter zu fliegen, um ihnen beim Ausbruch zu helfen. Ihre Lebenswege stellen die Frage nach Schicksal und Glück. Gleichzeitig mochte ich schon immer das Format des amerikanischen Biopics wie „Bird“, „Bound for Glory“, oder „Coal Miner's Daughter“ . Und so reifte in meinem Kopf die Idee, eine Biographie einer unbekannte Frau zu drehen, die sich bis zur totalen Selbstaufgabe verliebt.

Der Film baut auf eine ganze Reihe von elliptischen Auslassungen auf, die uns noch tiefer in die Geschichte hineinziehen. Sie bringen uns dazu, uns auszumalen, was Suzanne während dieser Zeit durchgemacht hat. Vor allem, als Suzanne wieder mit ihrem Sohn zusammenkommt, der dann bereits drei Jahre alt ist.
Ja, die Erzählung auf Ellipsen aufzubauen, war eines der Wagnisse, auf die wir uns bei diesem Film eingelassen haben. Meine Koautorin Mariette Desert, mein Cutter Thomas Marchand und ich wollten alle eine sehr kraftvolle Off-Screen-Geschichte erschaffen, die die Zuschauer in aktive Teilnehmer verwandelt und es ihnen erlaubt, die Lücken in der Geschichte mit ihren eigenen Erfahrungen zu füllen. Wir haben uns sogar dafür entschieden, Charlie, Suzannes Sohn, erst mit drei Jahren auftauchen zu lassen, anstatt seine Geburt zu drehen. Ich hatte den Eindruck, es sei filmischer, eine Teenagerin, die plötzlich Mutter ist, mit einem abrupten Schnitt zu zeigen. Die Brutalität einer Auslassung kann besser als alles andere den Umbruch vermitteln, der durch so ein Ereignis hervorgerufen wird. Der Film spricht auch über universelle Fragen, die tief an den persönlichen Fragen eines jeden einzelnen rühren. Jeder kann sich vorstellen, wie es ist, mit nur siebzehn Jahren ein Kind zu bekommen. Wir haben uns auch schon sehr früh dafür entschieden, die Liebenden auf der Flucht nicht zu drehen. Das ist zu vorhersehbar und wurde schon zu oft im Kino gezeigt. An diesem Punkt der Geschichte ist es viel interessanter, die zu beobachten, die zurückbleiben, Suzannes Figur durch ihre Abwesenheit auszuarbeiten.

Die Originalität des Films rührt auch daher, dass er einer Hauptfigur mittels „choralem“ Erzählen folgt.
Diese Struktur, sich zwischen der Chronik einer einzelnen Figur und einem „Choralwerk“ zu bewegen, gab es schon in „Love like Poison“. Aber wir haben die Idee weiterentwickelt und ihr ein echt romantisches Gefühl eingehaucht. Suzanne ist das Rückgrat des Films – aber wir haben uns erlaubt, sie aus der Geschichte verschwinden zu lassen, um mehr über die anderen Figuren zu erfahren. Das Drehbuch tauchte tiefer in die Geschichte jeder Figur ein. Doch während des Schnitts mussten wir die Geschichte ausbalancieren. Wir haben den Film geglättet, indem wir folgendes Prinzip anwandten: Szenen, in denen Suzanne nicht vorkam, die aber indirekt mit ihr verbunden waren, weil sie in Bezug zu ihrer Abwesenheit standen, blieben drin. Ob das nun die Szene mit dem Anhalter in Nicolas' Laderaum war, oder die, als Charlie aus der Schule heimkommt, alles bezieht sich auf sie.

Wir ahnen sofort, dass ihre Begegnung mit Julien dramatische Konsequenzen haben wird, aber sie muss diese Geschichte durchleben, denn das ist wahre Liebe zwischen den beiden …
Da stellt sich wieder die Frage nach dem Schicksal. Manchmal müssen wir – ohne es unterdrücken zu können - etwas durchleben, egal, wie viel Gewalt oder Chaos das nach sich zieht. Rückblickend glaube ich, Suzanne leidet an einem so großen Mangel an Liebe, dass sie ihn mit diesem Mann ausfüllen muss. Sie hat keine Wahl. Sie muss diesen Weg gehen, auch wenn das als extreme und tabuisierte Konsequenz bedeutet, ihr eigenes Kind im Stich zu lassen. Die Herausforderung war, jenseits aller Verurteilung zu bleiben und nicht zu moralisieren. Eine emotionale Geschichte zu konstruieren und beständig Liebe zwischen den Figuren fließen zu lassen, damit das Publikum diese Liebe fühlen kann, damit diese Liebe bei den Zuschauern genug Empathie hervorruft. Damit sie Suzanne so begleiten wollen, wie sie ist, in totaler Ambivalenz, ohne sie zu verurteilen. Einer der Gründe, warum wir Suzanne nicht verurteilen wollen, ist, dass wir viel öfter sehen, wie sie sich den Konsequenzen ihrer Handlungen stellt, anstatt die Entscheidungen, die sie trifft, infrage zu stellen. Tatsächlich nähern wir uns dem Ganzen nicht von einem psychologischen Standpunkt aus. Die meisten wichtigen Entscheidungen trifft Suzanne off-screen. Sie ist uns und den anderen Figuren immer einen Schritt voraus. Sie entzieht sich uns, wie sie sich ihrem Vater entzieht, ihrer Schwester, und am Ende sogar Julien. Diese mysteriöse Facette macht sie zu einem wirklich fiktiven Charakter. Aber der Film übernimmt immer die Verantwortung für die Schwere ihrer Entscheidungen. Sie bezahlt beständig den Preis für ihre Freiheit.

Als Suzanne mit dem schlafenden Kind auf dem Schoß in der Bar sitzt, erlaubt uns die Nahaufnahme ihres Gesichts, sowohl ihre Verzweiflung darüber zu spüren, zu früh Mutter geworden zu sein, als auch die Kraft, die ihr dieses kleine schlafende Wesen gibt.
Dieses Kind bindet sie, und gleichzeitig hilft es ihr zu leben. Sie wird es nie bereuen, ihn bekommen zu haben. SUZANNE ist von Anfang bis Ende ein Liebesfilm, mit den ständigen Widersprüchlichkeiten unserer Gefühle und dem endlosen Hin und Her des Lebens. Suzanne verliert Charlie, um Julien zu finden, und sie muss ihre Schwester verlieren, um sich selbst zu finden und um eine echte Mutter zu werden. Manche Todesfälle sind immens traurig und zugleich befreiend. Sie erlauben uns, von einer Situation zur nächsten weiterzugehen. Sie erlauben uns zu wachsen. „Suzanne“ ist auch ein Film über Belastbarkeit, er zeigt uns, wie unser Lebenswille größer sein kann als alles andere. Als Suzanne am Ende im Besuchsraum des Gefängnisses ist und über ihre beiden Kinder nachdenkt, ist die Idee, dass hinter dem Chaos etwas erschaffen und vermittelt wurde. Das Leben geht weiter, weit über sie hinaus. Deshalb ist das letzte Gesicht, das man im Film sieht, das von Charlie.

Als Suzanne am Grab ihrer Mutter steht, wird plötzlich klar, dass sie ihr Kind genau dem aussetzt, was sie selbst in ihrer Kindheit erdulden musste: die Abwesenheit der Mutter …
Absolut. Der Tod der Mutter enthält die zentrale Aussage des Films, und ihr Grab ist ein ritueller Ort, an dem alles Wichtige gesagt wird, geschieht oder gelernt wird. Aber der Tod ist nur ein Hinweis auf den Sinn. Ich behandle das Thema nicht, als wäre es ein Kindheitstrauma. Es herrscht eine dramatische Spannung im klassischen Wortsinn, wie es in Biopics oft der Fall ist. Im Gegensatz dazu wollte ich eine Ahnung von Geheimnis und Zufall entwickeln. Es gibt eine ursprüngliche „Ursache“, die nicht darauf gewartet hat, dass wir die Geschichte erzählen. Manchmal kennen wir die Ursache nicht einmal, und sie entzieht sich uns. Dennoch ist sie unsere treibende Kraft, wie eine Quelle, die uns nährt.

Wie gingen Sie nach „Love Like Poison“ die Regie zu ihrem zweiten Spielfilm an?
Bei „Suzanne“ habe ich versucht, „loszulassen“, dem Zufall, der Realität und den Schauspielern mehr Raum zu lassen, um einen Film zu machen, der freier und weniger glatt ist. Vor allem habe ich versucht, sobald es möglich war, dokumentarisches Material zu verwenden, um die fiktive Handlung in eine realistische Umgebung zu tauchen. Gleichzeitig stellten mein Kameramann Tom Harari und ich uns größeren formalen Herausforderungen, um dem Film etwas Lyrisches, Poetisches zu geben. Im Unterschied zum Vorgängerfilm hatten wir als neue Inspiration die amerikanische Fotografie der 1960er, von William Eggleston und Stephen Shore. Andere Bezugspunkte waren Tom Wood und Lorca di Corcia, den wir durch Virginie Montel entdeckt haben. Diese Einflüsse führten dazu, dass wir die Räume fast wie in einer Dokumentation einfingen, und gleichzeitig sehr komponiert.. Viele Einstellungen wurden durch diesen Ansatz gefüttert, wie der Parkplatz mit den Lastwagen, die Tankstellen, der Hafen, Suzannes Familie im Wohnzimmer, statisch gerahmt . Ich habe versucht, so den sozialen Aspekt auf einzigartige Weise in den Film einzubringen, indem ich den Lebensraum der Figuren zeige, ihre Umgebung. Denn sozialer Determinismus ist ebenfalls ein Faktor der Geschichte. Wäre der Vater kein Lastwagenfahrer und darum immer weg gewesen, vielleicht hätten sich die Dinge anders entwickelt. Vor allem hätte er Charlie behalten können. Wenn Maria nicht so jung schon hätte arbeiten müssen...

Maria ist Suzannes kleine Schwester, aber sie übernimmt sehr viel Verantwortung für sie.
Das ist normal in Familien: Wenn ein Kind Probleme macht, fühlt das andere Kind die Notwendigkeit, sich gut zu benehmen. Alles bedingt sich gegenseitig, und jeder Menschen übernimmt den Platz, der bleibt. Die beiden Schwestern sind auf eine enge Art miteinander verbunden, aber so, als ob sie nicht zur gleichen Zeit existieren könnten. Darum habe ich zugelassen, dass Maria so brutal verschwindet. Suzanne ist an einem Punkt ihrem Leben, an dem sie diesen Schock braucht, um reagieren zu können.

Die Szene, in der die Fähre nach Marokko in die Nacht verschwindet, hat eine poetische Intensität. Sie beschwört sowohl ein Ende als auch einen Neuanfang herauf, die Bedrohung eines Schiffbruchs und das Versprechen eines Woanders...
Der Anfang des Films, der eher rau und zerhackt ist, ist eine Reflexion der Charaktere. Als die Geschichte sich weiterentwickelt, entfaltet sich auch die Regie und erlaubt dabei eine größere Poesie. Ich wollte, dass die Form sich mit der Geschichte entwickelt, dass sie immer erwachsener und selbstbewusster wird, ihr Spielraum und ihr Ausmaß wächst, wie die Figur von Suzanne.

Es gibt auch ein paar Ausflüge in die Fantasie, als Suzanne Maria im Nachtclub erscheint, oder als sie Julien im Bus wiederfindet...
Ich wollte einfach die Macht der Fantasie ins wirkliche Leben einschreiben. Wie fühlt es sich an, von jemandem heimgesucht zu werden? Wie kann das Kino dieses Phänomen übersetzen? Dieses sehr seltsame Gefühl, dass zugleich sehr natürlich ist. Wenn wir jemanden so sehr vermissen, haben wir den Eindruck, wir sehen diese Person überall: Wir gehen auf der Straße an ihr vorbei, wir sehen sie in den Gesichtern von Fremden. Ich stelle mir vor, dass das im Nachtclub passiert. Im Gegensatz dazu ist das, was im Bus passiert, ein emotionaler Schock für Suzanne. Diese Erscheinung ist alptraumhaft. Sie hat gerade erst angefangen, ihr Leben neu aufzubauen. Julien ist alles, dem sie entkommen will, und gleichzeitig alles, worauf sie immer schon gewartet hat. So ein Augenblick kann nur auf fantasievolle Weise ausgedrückt werden.

Bisher spielte Sara Forestier sehr expressive Rollen. Hier ist sie fast schon gegen ihren Typ besetzt ....
Die Figur von Suzanne verlangte nach einer bescheidenen Interpretation. Sara war davon sofort überzeugt, so wie wir alle. Von diesem Punkt an war unsere Zusammenarbeit sowohl naheliegend wie auch faszinierend. Sie ist eine unglaublich gute Schauspielerin, mit einer seltenen Intensität, in der Lage, der gewaltsame Situationen zu meistern. Zur gleichen Zeit umgibt sie ein Strahlen, was ein enormer Vorteil für ihre Figur war, denn ich wusste, dass der Film wahrscheinlich sehr dunkel sein würde. Ich wusste, dass ihr inneres Licht und ihre Energie einen frischen Wind in den Film bringen würde, den dieser brauchte. Ich war während des Drehs fasziniert von der emotionalen Reife dieser 25-jährigen Frau. Sie konnte alles ausdrücken, von Gewalt bis hin zu Liebe und Leidenschaft, Trauer, Mutterfreuden, als ob sie schon hundert Leben gelebt hätte...

Und Adèle Haenel?
Ich habe sie in Christophe Ruggias Film „Les Diables“ gesehen, dann in Céline Sciamas „Water Lillies“ und in „L'Apollonide“ von Bertrand Bonello. Ich wollte schon seit langem mit ihr arbeiten. Sie ist eine ungewöhnliche Person und Schauspielerin. Sie hat so viel Tiefe, es war faszinierend, sie in lichtere Gefilde zu führen. Ich wusste, dass der Leichtsinn, den ich in Maria gesucht habe, bei ihr nie hohl wäre. Sie wusste, wie sie die Melancholie und das Drama hinter ihrem Lachen an die Oberfläche bringen konnte. Ich wollte auch ihre Albernheit und ihre Fantasie herausfordern, denn sie ist eine sehr lustige Person. Vor allem aber wollte ich, dass sie sich gehen lässt. Ich habe viele ihrer Vorschläge während des Drehs angenommen.

Die Szene, in der sich die Teenager Maria und Suzanne hinter dem Zaun verstecken und Jungs ärgern, ist in der Tat sehr komisch...
Genau – im Teil über das Heranwachsen kam vieles von den Schauspielerinnen. Ich gab ihnen die Grundstruktur der Szenen, aber dann habe ich ihnen viel Freiheiten gelassen. Sara, Adèle und François Damiens sind sehr stark darin zu improvisieren. Es war ein wahres Vergnügen. Während der Grillszene zum Beispiel richtete ich das Set ein, die Stimmung, die Extras, aber ab dann habe ich sie improvisieren lassen, damit etwas Reichhaltiges geschehen konnte, etwas, das näher an der Realität war.

Und die Wahl François Damiens?
Ich habe seine Arbeit in Axelle Roperts sehr schönem Film „La Famille Wolberg“ sehr gemocht, und dann habe ich seine komischen Fähigkeiten entdeckt, die versteckte Kamera, die ihn in Belgien berühmt gemacht hat. Er brachte mich zum Lachen, er ist ein Genie, ein unglaublich guter Schauspieler. Ich spüre, dass er die Tiefe und Breite von Schauspielern wie Jean Yanne in „Nous ne viellirons pas ensemble““, Guy Marchand oder sogar Pialat selbst hat. Er erneuert etwas in seiner Physis, seinem Verhältnis zur Rolle, seinem emotionalen Ausdruck, es ist sehr ernst und roh. Er berührt mich tief. Ich konnte mir keinen anderen in der Rolle des Nicolas vorstellen.

Und Paul Hamy ?
Zuerst einmal war er gar kein Schauspieler. Ich wollte, dass Julien jemand Unbekanntes ist, dass diese Person die ästhetische Verbindung zwischen der dokumentarischen Seite des Films und der narrativen Fiktion war. Also habe ich ihn per Ausschreibung entdeckt. Keinen Profi für so eine wichtige Rolle zu nehmen war ein gefährliches Spiel. Hätte die Liebesgeschichte zwischen ihm und Suzanne nicht funktioniert, hätte man sich gefragt, was sie überhaupt mit ihm will, wäre der Film einfach zerfallen. Es hat lange gedauert, bis wir ihn gefunden hatten, und bis ich sicher war, dass er der Richtige ist. Wir haben sehr viel gearbeitet, vorbereitet … Paul hat eine sehr anziehende Präsenz auf der Leinwand, und ein außergewöhnliches Gespür fürs Schauspielern. Er hat all die passenden Zutaten, um ein großer Schauspieler zu werden.

Einen Zeitraum von 25 Jahren auf den Gesichtern der Schauspieler darzustellen ist eine echte Herausforderung …
Ja, einer der Herausforderungen des Films war die künstlerische Leitung, die benötigt wird, wenn die Figuren altern. Ein Fehler in der Perückenwahl, ein Detail in der Maske, das bemerkt wird, und der Zuschauer ist von der Handlung abgelenkt. Glücklicherweise hatten wir ein außergewöhnliches Haar- und Masken-Team. Wir haben uns sehr schnell dafür entschieden, dass François der zeitliche Dreh- und Angelpunkt sein würde, denn sein Aussehen ist sehr formbar. Er kann problemlos am Anfang des Films 38 sein, und am Ende 60. Wir haben sein Aussehen extrem verändert, seinen Körper. Er hat daran gearbeitet, wie sich sein Gang verändern würde. All diese Vorbereitungen waren schwer für ihn. Wir brauchten über zweieinhalb Stunden allein für sein Gesicht. Bei Sara und Adèle hatten wir uns dafür entschieden, das Wichtigste durch ihr Schauspiel darzustellen, mit präzisen und nüchternen Elementen, die das Vergehen der Zeit und die Reife verstärkten: Kürzeres Haar … Wie sich ihr Kleidungsstil entwickelt.

In diesem Stil vergeht die Zeit auch subtil in der Ausstattung...
Gemeinsam mit unserer Produktdesignerin Anna Falguères haben wir uns entschieden, keine Zeitperiode nachzubauen, sondern stattdessen zu versuchen, sie heraufzubeschwören, so dass sich die Dinge selbst so anfühlen, als ob sie aus dieser Zeit stammen. Ein Objekt, ein Material, eine bestimmte Tapete genügten, um eine bestimmte Ära zu suggerieren. Wir spürten, dass es funktionieren würde, wenn wir es nicht anzweifelten. Ich wollte, dass die Zeit fließt, die Veränderungen, die wir bemerken, sollten fast unterbewusst auftauchen, als kleine Hinweise darauf, dass die Zeit vergeht.

Und die Musik …
Für mich war es wichtig, dass der Film den Rock'n'Roll-Sound der 1990er und 2000er hat. Das sagt sowohl etwas über Suzannes Teenagerjahre als auch über meine Generation aus. Ich verwendete Songs, die die englische All-Girl-Rockband Electrelane bereits geschrieben hatte und die ich sehr liebe. Und ich habe auch deren Leadsängerin Verity Susman gefragt, ob sie ein paar neue Lieder komponieren würde. Sie war diejenige, die das Hauptthema des Films geschrieben hat, das auch während einiger Schlüsselmomente wieder auftaucht und eine emotionale und zeitliche Kontinuität in den Film bringt. Es gibt außerdem noch ein paar Songs aus dieser Periode, die sich verbinden: Noir Désir, Courtney Love und schlussendlich Nina Simones Gospelversion von „Suzanne“, mit ihrer Stimme die alles erlebt zu haben scheint, alles Aufs und Abs des Lebens.

… was das Motto von Leonard Cohens Lied ist.
Ja, und dem ich auch eine Hommage erbringe, auch wenn es nur wegen einer Anekdote ist. Als ich anfing, „Love Like Poison“ zu drehen, wurde der Dreh storniert, weil die Finanzierung noch nicht stand. Ich war deprimiert, ich war mir nicht sicher, ob der Film jemals gedreht werden würde … Ich spielte mit dem Gedanken, ein anderes Projekt zu drehen, als ich Leonard Cohen live gesehen habe. Es war wunderschön, ihn wieder auf der Bühne zu sehen – das erfüllte mich mit solcher Lebenskraft, dass ich wieder mit dem Schreiben anfing. Und „Suzanne“ war geboren.

Eines der schönen Dinge an diesem Film ist, dass uns die Geschichte mitreißt und wir ihr folgen, ohne Ahnung, wohin uns die Regiearbeit führt … Außer dem Namen des Films, der ein Stolperstein ist...
Ja, der Titel hat sich von Anfang an aufgedrängt. Er half uns, die Tatsache zu akzeptieren, dass es zu Beginn des Films keine Hauptfigur gibt. Suzanne ist unsere Führerin, alles geschieht in Verbindung zu ihr, die Art, wie das Leben um sie läuft und die Liebe sind an sie geknüpft.

Suzanne ist ebenso die Heldin von Pialat’s „A nos amours“ (der englische Titel ist „Suzanne“) …
… der ein Kultfilm für mich und meinen Produzenten Bruno Levy ist. Vor jedem Dreh schaue ich mich verschiedene Filme von Pialat (nochmal) an. Er ist ein Prüfstein für mich. Irgendetwas tief in mir verbindet mich mit seinem Kino. Im Rückblick ist es in „A nos amours“ die fast schon inzestuöse Beziehung zwischen Suzanne und ihrem Vater, die einen Eindruck bei mir hinterlassen hat. In sehr zurückhaltender Weise ist mein Film auch die Geschichte eines jungen Mädchens, das versucht, der erdrückenden Liebe ihres Vaters zu entkommen.

Die Eröffnungsszene bezieht sich auf diese starke Verbindung, mit dem tanzenden kleinen Mädchen und dem Vater, der ihr bewundernd zusieht …
Ja, das ist wirklich ein Vater, der seine Tochter beobachtet. Deswegen habe ich ihn im Bild isoliert. Am Anfang des Films wollte ich den Zuschauer nur an einen Ort der Kindheitserinnerungen zurückversetzen, so dass er emotionale Verbindungen mit den Figuren eingehen kann. Am Anfang war da dieses Trio, das sich immens nahesteht, das man nicht sofort versteht, an das man sich später jedoch erinnert. Am Ende des Films, im Besucherraum, findet sich eine seltsame Familie wieder. Der Vater kehrt zurück in Suzannes Leben.

Ja, aber wir glauben, dass Julien auch zurückkehren wird, nach all den anderen Elllipsen!
Möglich … Auf jeden Fall markiert das Filmende nicht das Ende ihres Liebeslebens!