MADEMOISELLE CHAMBON

Regisseur Stéphane Brizé

Filmographie

Spielfilme

2009 MADEMOISELLE CHAMBON, César 2010 für das Beste Drehbuch
2007 ENTRE ADULTES
2005 JE NE SUIS PAS LÀ POUR ÊTRE AIMÉ (Man muss mich nicht lieben)
Wettbewerb - San Sebastian Festival 2005; César-Nominierung 2006: Bester Darsteller, Beste Schauspielerin, Beste männliche Nebenrolle; European Film Awards-Nominierung 2006: Bester Darsteller
1999 LE BLEU DES VILLES
Quinzaine des Réalisateurs – Cannes Festival 1999;
Prix Michel d’Ornano für das Beste Drehbuch - Deauville Festival 1999

Kurzfilme

2005 UNE VIE DE RÊVES
1996 L’OEIL QUI TRAÎNE
Grand Prix – Vendôme Festival 1996
Grand Prix und Prix du Public – Rennes Festival 1997
Grand Prix – Mamers Festival 1997
Grand Prix – Festival von Alès 1997
Männlicher Darsteller Preis – Festival von Saint-Denis 1997
1993 BLEU DOMMAGE
Grand Prix – Festival de Cognac 1994

Dokumentarfilm

2004 LE BEL INSTANT


INTERVIEW MIT DEM REGISSEUR

Wie kamen Sie auf die Geschichte?
Florence Vignon, meine Koautorin, begeisterte mich vor ungefähr zehn Jahren für das Buch von Éric Holder. Ich las und liebte es, aber zu der Zeit konnte ich es noch nicht verfilmen. Ich hatte noch zuwenig Erfahrungen gesammelt, als Mensch und auch als Filmemacher, um wirklich zu verstehen, was die Hauptfigur durchmacht. Das Leben sorgte dafür, dass ich jetzt soweit war!

Das ist eine sehr einfache Geschichte. Warum brauchten Sie das Buch für Ihr Szenario?
Ein Maurer, verheiratet mit einer Frau, die er liebt, verliebt sich in die Lehrerin seines Sohnes. Das ist wirklich eine einfache Geschichte. Es ist auch nicht die Handlung, die mich fesselte, sondern mehr die Art, in der Éric Holder die Gefühle dieser einfachen Menschen übersetzt. Mit seinen erzählerischen Fertigkeiten spricht er über diese Menschen in einer Leichtigkeit und Emotionalität, die mir zu sagen schien: „Das musst du verfilmen, damit musst du dich auseinandersetzen.“ Mit Florence Vignon machte ich mich ans Adaptieren des Buches. Letztendlich haben wir das Buch aber nicht adaptiert. Ich schickte das fertige Drehbuch an Éric Holder, und er antwortete mit einem sehr schönen Brief: „Es ist weniger eine Adaption als eine Fortsetzung, eine Anreicherung, die Enthüllung des Gefühls, das der Roman vermitteln wollte.“

Wollten Sie nicht mit dem Autoren zusammen arbeiten?
Nein. Für mich war der Roman eine Inspiration. Wie ein Parfüm oder ein Bild, das ein Gefühl hervorruft. Das Buch von Holder war ideal zum „Benutzen“, da es keine komplizierte Handlung hat. Es gibt die inneren Stimmen der Charaktere inmitten einer sehr einfachen Geschichte wieder. Und so habe ich mit Florence Vignon nicht nur die Handlung aus der Sicht von Jean weiter geführt – im Roman ist die Lehrerin viel stärker im Zentrum –, wir haben auch zumindest den dritten Teil neu entwickelt.

Der Film endet also nicht wie das Buch?
Ja, da die Charaktere dieselben Emotionen erfahren wie im Roman, aber auch nein, da dieses Ende völlig anders konstruiert wurde. Ich glaube, man muss manchmal ein Buch „betrügen“, um das literarische Gefühl genauer in eine Kino-Emotion verwandeln zu können. Unsere erzählerischen Mittel sind so unterschiedlich, dass eine wörtliche Umsetzung oft ein Fehler ist. Auf jeden Fall war das bei diesem Roman so. Wir müssen ja nicht verallgemeinern.

Sie äußern oft, dass Ihre Charaktere sehr psychoanalytisch angelegt seien. Ist das immer noch so?
Ja, absolut. Für mich ist es sehr wichtig zu wissen, wie viele Brüder und Schwestern sie haben, an welcher Geschwisterstelle sie stehen, wie ihre Beziehungen zu ihren Eltern sind etc. Auch wenn dies im Film komplett unerwähnt bleibt. Das sind die Orientierungspunkte für Florence und mich, um zu verstehen, wo die Charaktere am Anfang der Geschichte stehen und warum sie sich in die eine oder andere Richtung entwickeln. Alles muss komplett stimmig sein.

Jean erfährt, wie die anderen Hauptcharaktere Ihres Films, ein Bewusstwerden seiner selbst. Hat er sein Leben verpasst?
Jedes Mal, wenn sich eine Geschichte in meinem Kopf entwickelt, baut sie sich um eine Selbsterkenntnis und eine zu treffende Wahl herum auf. Aber MADEMOISELLE CHAMBON unterscheidet sich von meinen vorherigen Filmen: So sehr, wie die Figuren meiner anderen Filme von einer großen Traurigkeit geprägt waren, so wenig ist Jean zu Beginn des Films unglücklich. Jean ist, wie wir alle, das Resultat seiner Erziehung, eines Milieus mit eigenen Regeln und Prinzipien. Er führt ein einfaches Leben, aber das scheint ihn nicht zu belasten. Natürlich spürt er die Last der alltäglichen Routine – wie kann man der entkommen? –, aber er ist nicht zu Tode gelangweilt. Da ist nur sehr viel in ihm selbst, das er gar nicht kennt, und das bringt eine glückliche Begegnung ans Licht, während gleichzeitig alle seine Sicherheiten ins Wanken geraten.
Jeans Alltag zu filmen war für mich im Vergleich zu meinen anderen Filmen sehr schwierig, da ich zum ersten Mal glückliche Menschen drehen sollte. Auf jeden Fall Menschen ohne Spannungen oder echte Not. Ich habe keine Angst davor, Konflikte zu filmen, da ich deren Mechanik beherrsche und sie ja etwas Spektakuläres haben. Aber etwas Harmonisches zwischen zwei Menschen zu drehen, ohne die Zuschauer zu langweilen und gefühlsduselig zu werden, das beunruhigte mich. Um das zu schaffen, musste ich einfach damit aufhören, Angst davor zu haben, dass etwas zu gut läuft.

Wieso drehten Sie in CinemaScope?
Wir machten zuerst ein paar Tests mit einem kleineren Format. Aber während dieser Versuche war ich sehr frustriert, ich wollte dauernd die Grenzen des vorgegebenen Bildrahmens erweitern. Ich fühlte mich total eingeengt durch das Format. Schließlich wollte ich CinemaScope ausprobieren. Und als ich die ersten Bilder damit sah, fühlte ich mich wohl, die Charaktere fanden alle ihren natürlichen Platz im Bild. Das gibt dem Film eine Tiefe, der einfachen Geschichte eine „epische“ Dimension.

Haben Sie das Gefühl, Risiken eingegangen zu sein?
Nur wenn man Risiken eingeht, können extrem zerbrechliche Gefühle eingefangen werden. Ich kenne gerne die Richtung, in die die Schauspieler und ich unterwegs sind, aber ich weiß nie genau, wie. Es gibt einen Text, der aber nicht auswendig gelernt wird, keine Proben, nur die Einsätze sind bekannt, und dann wird gedreht. Für mich zeigt sich die Wahrheit nur in solchen Momente der Ungewissheit. Und schlussendlich wurde mir klar, dass je weniger ich die Dinge im voraus fixiere, desto eher kommt das Resultat dem idealen Gefühl nahe, das ich vor dem Drehen im Kopf hatte. Bei diesem Projekt lag das Risiko in dem, was zwischen den Zeilen stand. Denn mehr als in meinen bisherigen Filmen gibt es viele Szenen, bei denen die echten Einsätze nicht bei den gesprochenen Dialogen stattfinden, sondern zwischen den Zeilen. Ich musste also auf die Stärke der Situationen vertrauen, ohne davor Angst zu haben, dass die Dialoge ohne erkennbaren Einsatz beginnen.

Wie haben Sie mit dem Licht und den Farben gearbeitet?
Mehr als in meinen vorherigen Filmen achtete ich sehr auf die Farben der Kostüme und der Ausstattung. Nicht, dass mir das bisher nicht wichtig war. Mein Kameramann Antoine Hébérle ermöglichte mir bei diesem Film einen fruchtbaren Austausch, durch den ich viel weiter gehen konnte als sonst. Die wunderbare Arbeit, die er mit der Kamera ablieferte, ließ diesen realistischen Film schöner werden als die Wirklichkeit, obwohl er komplett die Wahrheit der Orte und Kostüme respektierte.

Bei jedem Ihrer Filme fällt auf, dass Sie die Geschichten ohne Übergangsszenen erzählen, die Brüche zwischen den Sequenzen sind ziemlich radikal.
Ich muss so vorgehen. Da ich es so liebe, mir viel Zeit für jede einzelne Sequenz zu nehmen, muss ich die Erzählung beschleunigen, um die Zuschauer nicht zu langweilen.
Die Übergangssequenzen, die im Drehbuch stehen und die wir gedreht haben, verschwinden beim Schnitt sehr schnell, nur das Essentielle bleibt.

Warum Vincent Lindon?
Weil er mich zutiefst bewegt. Vincent hat diese unglaubliche Eigenschaft: Alles, was er von sich zeigt, erzählt etwas von uns, von unseren Stärken, unseren Schwächen, unseren Ängsten und Unsicherheiten, kurz unserer Menschlichkeit. Dieser Mann hat Stärken und Schwächen und er zeigt sie, ohne etwas zu verbergen. Das macht ihn extrem stark und bewegend auf der Leinwand. Außerdem besitzt Vincent diese äußerst seltene Gabe, sowohl als Boss wie auch als Handwerker überzeugend zu wirken. Ich habe ihm eine Kelle in die Hand gedrückt und er wurde zum Maurer. Und da er sehr geschickt ist, brauchte er keinen dreimonatigen Kurs, um zu lernen wie man eine Mauer baut. Für mich war es wichtig, dass dieser Arbeiter sofort überzeugend wirkte, dass seine Bewegungen echt waren, dass ich ihn in einer langen Einstellung beim Arbeiten filmen konnte. Als ich ihm die Rolle anbot, wusste ich noch nicht, was für eine starke Beziehung wir am Set haben würden.
Was meinen Sie damit?
Das heißt, auf eine verwirrende Weise verstehe ich alles, was er fühlt und glaube, dass es ihm auch so geht. Deshalb kämpften wir hart darum, das Richtige für eine Szene zu finden, aber ohne uns untereinander zu zerstreiten, da ich glaube, dass unsere Werte sehr ähnlich sind.

Als Sie die Rolle der Lehrerin Sandrine Kiberlain gaben, hatten Sie keine Angst davor, der Manipulation bezichtigt zu werden?
Ich bezweifle nicht, dass einige Menschen in meiner Wahl das sehen, was Sie Manipulation nennen. Dennoch kann ich keine Manipulation darin sehen, ein Paar, das sich getrennt hat, ein verliebtes Paar spielen zu lassen. Ich würde das die reine Unbekümmertheit nennen. Als ich wusste, dass Vincent beim Projekt dabei sein würde, versuchte ich mir, die Schauspielerin vorzustellen, die zunächst für die Rolle interessant wäre und auch mit Vincent ein starkes Paar abgäbe. Sehr schnell dachte ich an Sandrine. Sie ist eine der talentiertesten Schauspielerinnen Frankreichs und sie umgibt etwas Geheimnisvolles, das sie absolut überwältigend macht. Für die Rolle brauchte ich dieses Mysteriöse. Natürlich sprach ich mit Vincent, bevor ich Sandrine kontaktierte. Er sagte: „Ich leugne nicht, dass es verwirrend sein wird, diese Geschichte mit Sandrine zu spielen. Aber wenn du glaubst, dass sie die Richtige ist, werde ich mich dem nicht widersetzen. Sie ist eine außergewöhnliche Schauspielerin und ich kann mir nicht vorstellen, dass sie wegen mir diese tolle Rolle nicht annehmen würde.“ Ich ließ ihr also das Skript schicken und glücklicherweise sagte sie zu. Sie haben sicherlich miteinander darüber gesprochen, aber das geht nur die Beiden was an.

Und Aure Atika spielt Anne-Marie, die Frau von Jean, einem Fabrikarbeiter. Eine sehr überraschende Rolle für diese Schauspielerin.
Ja, sicherlich überraschend, wenn du erst mal für ein bestimmtes Rollenfach bekannt bist, dann ist es quasi unmöglich, etwas anderes zu spielen. Und da Aure eine sehr schöne Frau ist, bekam sie fast nur Rollen in Bezug darauf. Es ist verständlich, aber auch wenn ich nicht blind bin, habe ich mir die Freiheit genommen, etwas anderes in ihr zu sehen. Eine Mischung aus Stärke, Freundlichkeit und Bescheidenheit. All das verkörpert für mich Anne-Maries Charakter.

Neben diesen Hauptfiguren gibt es Jean-Marc Thibault, der Jeans Vater spielt.
Natürlich brauchte ich einen etwas älteren Schauspieler, der eine sichtbare Rauheit und ein gutes Herz besitzt. Für mich war das Jean-Marc Thibault. Ich muss gestehen, dass es für mich sehr bewegend war, mit ihm zu arbeiten, da ich mich an sein Duo mit Roger Pierre erinnere, das ich als Kind oft samstags abends in den Sendungen mit Maritie und Gilbert Carpentier ansah.

Sie haben den Ruf, ein sehr guter Regisseur für Schauspieler zu sein. Wie arbeiten Sie mit ihnen?
Schauspieler: Man sucht sie gut aus, man zeigt ihnen, dass man sie liebt und 80 Prozent der Arbeit ist getan. Es bleibt nur, die Kamera am richtigen Ort zu platzieren und aufmerksam bei dem zu sein, was gesagt wird. Und wenn die Schauspieler dann noch ihren Text nicht können, hilft mir das sehr. Und wenn Regisseure Schauspielern dabei helfen, noch besser zu sein, sollte man nicht vergessen, dass große Schauspieler ebenso ihre Regisseuren dazu verpflichten, gut zu sein.

Dennoch entdeckt man in diesem Film mehr bei ihnen als das, was wir normalerweise sehen.
Das Interessante ist, ein wenig woanders hin zu gehen und etwas anderes zu machen, als das, was wir bereits gesehen haben. Nicht anders machen, um es unterschiedlich zu machen. Aber unterschiedlich werden lassen, weil ich Dinge und Menschen mit meinen eigenen Augen sehe. Ein Blick, der weder besser noch schlechter ist als der der anderen, es gibt einfach viele Ecken und Kanten in meiner Geschichte, und in diesen kleinen, beinahe absoluten Orten der Freiheit kann ich glücklicherweise zwischen dem Beginn und dem Ende einer Aufnahme leben. Ich versuche, etwas sehr Unsichtbares einzufangen, etwas, das sich zwischen den Wörtern versteckt, in der Stille und im Zögern. Etwas, das die kleinen Momente der Wahrheit zeigt. Also versuche ich, alles auszuradieren, was sich als Spiel entwickelt, das Wissen darum, und ich verlange von den Schauspielern, dass sie miteinander sprechen und sich zuhören. Vielleicht ist es das, was den Eindruck erweckt, dass sie überhaupt nicht so sind, wie wir sie gewöhnlich sehen.

Welche Aussage hat der Film?
Ich will keine Aussagen verbreiten, sondern Geschichten erzählen, die die Zuschauer bewegen. Dann können die Leute nach Überstimmungen mit ihrem Leben suchen und sich vielleicht wenigstens eine Frage stellen. Aber sie entscheiden, welche. Ich schaue, ich beobachte und schreibe auf. Jean ist ein Mann, der sich mit Worten und dem Ausdruck von Gefühlen unwohl fühlt. Deshalb ist es interessant und bewegend zu sehen, wie er angesichts dieser überwältigenden Gefühle und des daraus resultierenden Dilemmas reagieren wird. Gehen oder bleiben, das ist die Wahl, die er treffen muss – mit allen guten Gründen, die einen Menschen dazu bewegen, sich so oder so zu verhalten. Ich bewerte das natürlich nicht, sondern beobachte aufs Aufmerksamste die Qualen, die diese außergewöhnliche Situation hervorruft. Und sie ist natürlich außergewöhnlich für Jean.

Verliebt sich Jean eigentlich in die Geige oder in die Frau, die darauf spielt?
Er verliebt sich natürlich in Mademoiselle Chambon. Aber die Geige spielt eine wichtige Rolle, denn Jean ist sehr schnell so sehr betört von dieser Frau, dass es ihn wirklich umhaut, als er sie Geige spielen hört. Diese Geige durchbricht Barrieren und eröffnet Jean eine Empfindsamkeit, die er bisher ignorierte. Und von diesem Moment an ist es, als ob Jean ins tiefe Wasser springt, ohne schwimmen zu können.

Lernte Sandrine Kiberlain Geige spielen?
Es war unerlässlich für die Rolle. Und Sandrine hat unglaubliche Arbeit geleistet. Denn es gibt kein schwierigeres Instrument als die Violine. Klar, sie spielte mit Playback, aber ihre Bewegungen sind präzise und perfekt synchron – mit der rechten und der linken Hand, so dass man wirklich glauben könnte, die Musik rührt von ihrem Instrument her. Fünf Monate tägliche Übung mit Hélène Roblin, Geigenspielerin der Pariser Oper, begleitet von Cécile Moreau, waren für dieses Ergebnis erforderlich. Eine akribische Arbeit, bei der das Musikstück in kleine Segmente zerteilt wird, unermüdlich geprobt wird, bevor es wieder zusammengesetzt oder von neuem unendlich repetiert wird.

Wie haben Sie die Musik ausgesucht?
Obwohl die Musik im Film eine zentrale Rolle spielt, kommt sie gar nicht so oft vor. Es gibt zwei Stücke, die Sandrine spielt, und noch eins, das sie sich mit Jean anhört. Im Roman spielt Mademoiselle Chambon Bartók, aber das habe ich sofort abgetan, da ich etwas Melodisches hören wollte. Ich bat einen musikalischen Berater (Ange Ghinozzi) um Rat und erklärte ihm, dass ich Geigenstücke voller Melancholie suchte, nicht zu virtuos und nicht zu süß. Für mich seien die Noten, die aus Véronique Chambons Geige kämen, wie Worte, die sie an Jean richtete. Das ist ihre Art, sich zurückhaltend auszudrücken. Ich wusste auch, dass das erste Stück, das sie vor Jean spielt, das Leitthema des Films werden und noch zweimal im Lauf der Geschichte in anderer Orchestrierung wieder aufgenommen werden würde. Ange spielte mir ein Dutzend Stücke vor und schließlich wählte ich für die Szene in ihrer Wohnung ein Stück von Franz von Vecsey (aka Ferenc von Vecsey), ein ungarischer Komponist des beginnenden 20. Jahrhunderts, für die Geburtstagsszene Edward Elgar, ein englischer Komponist des 19. und 20. Jahrhunderts. Diese zwei Stücke sind voller melancholischer Anmut, und die Interpretation von Ayako Tanka erlaubt uns, voller Emotionen zu sein, ohne in gezierte Gefühlsduselei zu verfallen. In der Tat spielt sie die Geige wie die Schauspieler ihre Rollen spielen – ohne jede Sentimentalität.

Und dennoch ist es ein sentimentaler Film.
Unendlich gefühlvoll. Aber so sehr ich Gefühle liebe, so sehr hasse ich Sentimentalität. Eine der größten Schwierigkeiten lag für mich genau darin. Das Gefühl der Liebe bewusst zu machen, ohne je in Sentimentalität zu verfallen. Ich durfte keine Angst vor dem Gefühl haben, ohne die Emotion je erzwingen zu wollen. Es in seinem eigenen Tempo kommen lassen, ohne etwas zu beschleunigen.

Hatten Sie Referenzen im Kopf?
Wenn man die Begegnung zweier Menschen erzählt, die sich verpasst haben, ist es schwierig, nicht an „Die Brücken am Fluss“ von Clint Eastwood zu denken. Diese Szene, bei der Meryl Streep den Griff der Autotür hält, als sie sich entscheiden muss, ob sie geht oder bleibt, ist absolut herzzerreißend. Das war meine Tränendrüsen-Referenz.

Sie haben eine wirklich treue Verbindung zu ihren Produzenten. Waren deren Interventionen während der Filmproduktion wichtig?
Sie waren absolut notwendig. Ich brauche diese vertrauensvolle Arbeitsbe-ziehung, bei der nichts beiseite gelassen wird. Ich brauche echte Produzenten neben mir, Menschen mit einem eigenen Standpunkt. Miléna Poylo und Gilles Sacuto sind solche Menschen. Von den ersten Zeilen des Drehbuch an bis zur Endmischung unterstützen sie mich mit Fragen und Bestätigung. Wir arbeiten seit zwölf Jahren zusammen und es berührt mich in unserer Beziehung zutiefst, dass ich unsere Fortschritte bei jedem Film beobachten kann. Wir wachsen miteinander – Seite an Seite. Und das ist eine der schönen Geschichten meines Lebens.