IDA
Regie
PAWEL PAWLIKOWSKI – REGISSEUR
“IDA ist ein Film über Identität, Familie, Glaube, Schuld,
Sozialismus und Musik. Ich wollte einen Film über die Geschichte
machen, der doch nicht wie ein Geschichtsfilm wirkt; einen moralischen
Film, der doch keine Lektionen erteilt; ich wollte eine Geschichte erzählen,
in der jede Figur ihre eigenen Gründe hat; in der Poesie wichtiger
ist als Handlung. Vor allem aber wollte ich der üblichen Rhetorik
des polnischen Kinos entgegensteuern. IDA zeigt Polen aus der Sicht eines
Außenstehenden, der mit niemandem eine Rechnung offen hat, ein
Polen, das durch persönliche Erinnerungen und Gefühle gefiltert
ist, durch die Geräusche und Bilder meiner Kindheit.”
Der Filmemacher und BAFTA-Preisträger Pawel Pawlikowski wurde in
Warschau geboren. Mit 14 Jahren verließ er seine Heimat Polen,
zog nach Deutschland, dann nach Italien, um schließlich nach England
zu gehen, wo er seit 1977 lebt. Er studierte Literatur und Philosophie
in London und Oxford und machte Mitte der 1980er seine ersten Filme,
zunächst Dokumentationen für die BBC. Die bekanntesten Werke
aus dieser Zeit sind From Moscow to Pietushki, Dostoevsky’s Travels,
Serbian Epics und Tripping with Zhirinovsky, für die er unter anderem
mit einem Emmy, dem Prix Italia, dem Grierson-Preis und zwei Royal Television
Society Awards ausgezeichnet wurde. 1998 machte Pawlikowski seinen ersten
Fernsehfilm Twockers, den er zusammen mit Ian Duncan machte, und der
stark auf seiner Dokumentarfilmerfahrung aufbaut. Darauf folgten die
beiden Spielfilme Last Resort und My Summer of Love. Bei beiden war er
Drehbuchautor und Regisseur und für beide gewann er BAFTAs und Preise
auf internationalen Festivals.
INTERVIEW MIT PAWEL PAWLIKOWSKI
WIE SIND SIE AUF IDA GEKOMMEN?
IDA hat mehrere Quellen, die interessantesten sind wohl eher unbewusst.
Sagen wir so, ich komme aus einer Familie mit vielen Geheimnissen und
Widersprüchen, und habe fast mein ganzes Leben in unterschiedlichen
Formen des Exils gelebt. Fragen nach Identität, Familie, Blut,
Glaube, Zugehörigkeit und Geschichte haben bei mir immer eine
Rolle gespielt.
Ich hatte jahrelang mit der Idee einer katholischen Nonne gespielt, die
entdeckt, dass sie Jüdin ist. Ich hatte die Geschichte zunächst
1968 angesiedelt, dem Jahr der Studentenproteste und der von der Kommunistischen
Partei unterstützten antisemitischen Säuberungen in Polen.
In der Geschichte kamen eine Nonne vor, etwas älter als Ida, sowie
ein streitbarer Bischof und ein Staatssicherheitsbeamter; das alles war
stärker im politischen Geschehen der Zeit verankert. Das Drehbuch
wurde aber etwas zu schematisch, zu thrillerhaft und handlungsgetrieben
für meinen Geschmack – also legte ich IDA für eine Weile
zur Seite und ging nach Paris, um “The woman in the fifth” zu
drehen. Es war nicht der richtige Zeitpunkt für mich.
Als ich wieder begann, mich mit IDA zu befassen, hatte ich eine viel
klarere Vorstellung davon, wie der Film aussehen sollte. Zusammen mit
meiner Co-Autorin Rebecca Lenkiewicz reduzierte ich die ganze Geschichte
wieder, nahm Handlung heraus und gestaltete die Figuren komplexer und
weniger funktionell. Ida wurde jünger, unerfahrener, ein unbeschriebenes
Blatt – ein junges Mädchen ganz am Anfang des Lebens. Außerdem
verschoben wir die Geschichte ins Jahr 1962, in eine in Polen weniger
festgeschriebene Zeit, aber auch die Zeit, an die ich die lebendigsten
Erinnerungen habe: Meine eigenen Kindheitserinnerungen, ohne das Bewusstsein
darüber, was in der Erwachsenenwelt vor sich ging, aber umso sensibler
für Bilder und Geräusche. Manche Aufnahmen aus dem Film könnten
aus meinem Familienalbum stammen.
WIE KAMEN SIE AUF DIE FIGUR DER WANDA?
Als ich in den frühen 1980ern in Oxford studierte, freundete ich
mich mit Professor Brus an, einem genialen Ökonomen und reformierten
Marxisten, der Polen 1968 verließ. Besonders faszinierte mich seine
Frau Helena, die rauchte, trank und scherzte, und tolle Geschichten erzählte.
Dumme Leute konnte sie nicht ertragen, aber sie machte auf mich einen
warmherzigen und großzügigen Eindruck. Als ich aus Oxford
wegging, verlor ich die Brus' aus den Augen, aber etwa zehn jahre später
erfuhr ich aus den BBC-Nachrichten, dass die polnische Regierung die
Auslieferung einer gewissen Helena Brus-Wolinska forderte, wohnhaft in
Oxford, aufgrund von Verstößen gegen die Menschenrechte. Es
stellte sich heraus, dass diese charmante alte Dame mit Ende Zwanzig
eine Strafverfolgerin im stalinistischen Regime gewesen war. Unter anderem
hatte sie in einem Schauprozess einen völlig unschuldigen Mann und
echten Widerstandshelden in den Tod geschickt, General "Nil" Fieldorf.
Das war schon ein Schock. Ich konnte die warmherzige, ironische Frau,
die ich kennengelernt hatte, nicht mit der skrupellosen Fanatikerin und
stalinistischen Henkerin zusammenbringen. Dieses Paradox verfolgte mich über
Jahre. Ich versuchte sogar, ein Drehbuch über sie zu schreiben,
aber ich schaffte es nicht, mich jemand so widersprüchlichem zu
nähern oder gar mich einzufühlen. Erst in Idas Geschichte konnte
ich sie zu einer lebendigen Figur erwecken. Die ungläubige Frau
mit Blut an den Händen Ida zur Seite zu stellen, half mir interessanterweise,
den Charakter und die Reise einer jungen Nonne zu definieren.
MUSIK SPIELT IM FILM AUCH EINE WICHTIGE ROLLE . . .
Ja, die Popsongs hatten von Anfang an eine Schlüsselfunktion. Sie
hatten sich unwiderruflich in meine Kindheitserinnerung eingeprägt.
Sie geben der Landschaft die Farbe. Coltrane und so entsprangen meinem
erwachsenen Ich. Es traf sich gut, dass die 1950er und 1960er in Polen
eine große Zeit für den Jazz waren. Es gab eine richtiggehende
Explosion: Komeda, Namyslowski, Stanko, Wroblewski... Neben Idas Geschichte
wollte ich eine gewisse Vorstellung von Polen lebendig machen, eine,
die mir lieb und teuer ist. Mein Land war in den frühen Sechzigern
vielleicht grau, repressiv und unterjocht, aber auf gewisse Weise war
es auch 'cooler' und unverfälschter als das heutige Polen. Ich bin
sicher, dass viele Polen mit ihren Erfahrungen empfindlich geworden sind
und die Schönheit und die Liebe nicht wahrnehmen können, die
in diesen Film eingegangen sind – und mir vorwerfen werden, dass
ich dem Bild von Polen schade, weil ich die Melancholie, das Provinzielle
und das Groteske ins Zentrum stelle... Und dann ist da die Tatsache,
dass ein polnischer Bauer eine jüdische Familie umbringt… das
verspricht Ärger. Andererseits ist da auch die stalinistische Staatsanwältin
jüdischer Herkunft, was mich an anderen Fronten in die Bredouille
bringen könnte. Ich hoffe dennoch, dass der Film spezifisch genug
und eben nicht rhetorisch ist, und darum im Rahmen seiner eigenen Bedingungen
verstanden werden kann.
WIE HABEN SIE IDA BESETZT?
Nachdem ich ganz Polen nach jungen Schauspielerinnen und Schauspielschülerinnen
abgesucht hatte, entschied ich mich schließlich für einen
komplette Amateurin, ein Mädchen, das in ihrem Leben noch nie gespielt
hatte und nicht einmal spielen wollte – eine Seltenheit heutzutage.
Eine befreundete Regisseurin, Malgosia Szumowska, wusste, dass ich am
Rande der Verzweiflung war und mir die Zeit knapp wurde, sah Agata in
einem Warschauer Café. Sie rief mich sofort an, ich war gerade
in Paris, also bat ich sie, mit dem iPhone heimlich ein Foto von Agata
zu machen und es mir zu schicken. Auf den ersten Blick passte das Mädchen überhaupt
nicht, ein auffälliges Hipstergirl, mit Barock-Frisur, Vintage-Klamotten
und ultracoolem Gehabe. Kaum als Nonne geeignet. Aber sie sah interessant
aus, und ich war wirklich verzweifelt. Es stellte sich außerdem
heraus, dass Agata eine militante Feministin war, die an der Existenz
Gottes zweifelte und definitiv keine Zeit für die Kirche in Polen
hatte. Beim Vorsprechen nahm ich ihr das Make-up ab, die Frisur, die
Hipster-Accessoires und sah sie mir genauer an: Sie war genau richtig.
Sie hatte etwas Zeitloses und berührend Authentisches, wie unberührt
von den Medien und dem überall herrschenden Narzissmus dieser Zeit.
Sie hatte das Gesicht eines ernsten Kindes, doch auch eine gewisse Stärke
und ruhige Intelligenz. Einige Produzenten und Geldgeber hatten ernsthafte
Bedenken, eine Person einzustellen, die noch nie gespielt hatte und nicht
einmal Schauspielerin werden wollte.
Vor dem Dreh und auch noch währenddessen schickten sie mir besorgte
E-Mails, aber letztlich hat sich das Risiko voll und ganz ausgezahlt.
Ich könnte mir niemanden sonst in dieser Rolle vorstellen. Ich glaube,
sie hat die Erfahrung auch genossen, aber es ist auch ziemlich klar,
dass sie eher Regisseurin wird als Schauspielerin.
Agata Kulesza, die die Rolle der Wanda gespielt hat, ist ebenfalls eine
Frau von seltener Stärke und Integrität. Aber in anderer Hinsicht
war sie das komplette Gegenteil der jungen Agata. Eine echte Virtuosin,
die eine gründliche Theaterausbildung mit einer großen Energie
zusammenbrachte – sie hat sich ganz ihrem Metier verschrieben.
Um die schlagfertige, innerlich zerrissene, manische, melancholische
Wanda zu spielen, musste sie alle Register ziehen, und dabei konzentriert
bleiben, sich einschränken und eine bravouröse Haltung vermeiden.
Dieses Gleichgewicht zu halten ist nicht einfach.
Für die Rolle des jungen Saxophonisten Lis wünschte ich mir
einen Schauspieler, der wirklich Saxophon spielen konnte und außerdem
den Anschein erwecken, dass er wirklich aus den 1960ern stammt. Nicht
leicht heutzutage. Im Allgemeinen sind junge Schauspieler heute entweder
hübsche Jungs oder übermännliche Schränke. Junge
Männer, die gleichzeitig männlich, sensibel, intelligent, witzig
und charmant sind, finden sich nicht leicht. Dawid Ogrodnik hatte das
alles. Vor allem wirkte er authentisch. Zum Casting kam er mit einem
Kater. Er hatte irgendeinen Preis gewonnen und die ganze Nacht gefeiert.
Er hatte kein Saxophon, aber tauchte stattdessen mit einer Klarinette
auf, die ein Kumpel ihm geliehen hatte. Es war irgendwie rührend,
wie er versuchte, die Klarinette zusammenzuschrauben, und wie es ihn
verwirrte, als in irgendeiner seiner Taschen sein Telefon zu klingeln
begann. Erst fand er es nicht, dann zog er ein altes, mitgenommenes Handy
heraus und erklärte seinen Freunden, dass er beim Casting war...
Ich ließ ihn mit Agata Trzebuchowska spielen. Sie redeten, sie
tanzten, sie fühlten sich gut an zusammen.
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