Hieronymus Bosch – Garten der Lüste

Regie - José Luis López-Linares

José Luis López-Linares ist Regisseur und Produzent von Dokumentarfilmen. Er war Chef-Kameramann für die Filme von Carlos Saura, FernandoTrueba, Jaime Chávarri, Alain Tanner et Víctor Erice.
Seit 1994, hat er über 40 Dokumentarfilme produziert und realisiert, darunter ASALTAR LOS CIELOS (Prix Ondas 1997) UN ISTANTE EN LA VIDA AJENA (Goya für den Besten Dokumenarfilm 2004) und EXTRAS (Goya für den Besten Dokumentar-Kurzfilm 2005).
2005 wird er mit dem Goya für die Beste Kameraarbeit für den Film IBERIA von Carlos Saura ausgezeichnet.

Interview mit JOSÉ LUIS LÓPEZ-LINARES

Wie ist der Film entstanden? Waren Sie von Anfang an von Hieronymus Boschs « Garten der Lüste» besessen?
Am Anfang stand wie immer meine Begeisterung für das Prado-Museum. Meiner Ansicht nach umfasst es die beste Gemäldesammlung der Welt. Bevor ich diesen Dokumentarfilm gedreht habe, hatte ich bereits fünf Filme über Maler gemacht. Als mir das Prado-Museum und die BBVA-Stiftung die Möglichkeit boten, einen Film über Hieronymus Bosch zu drehen, war ich sehr dankbar. «Der Garten der Lüste» hat mich immer interessiert, auch wenn ich nicht sagen würde, dass ich von dem Bild besessen gewesen wäre. Doch dann las ich das Werk «Hieronymus Bosch. Der Garten der Lüste» von Reindert L. Falkenburg. Das war die Geburtsstunde meines Films. Daraufhin verfolgte mich das Gemälde ein Jahr lang, und das tut es heute noch.

Wie lange brauchten Sie für die Fertigstellung des Films? Waren Sie beim Dreh und im Schneideraum alleine? Um einen 90 Minuten langen Film fertigzustellen, verbringe ich normalerweise sechs Monate im Schneideraum. Manchmal mehr. Für die Herstellung dieses Films hatte ich von Juni 2015 bis Mai 2016 Zeit, was für einen solchen Stoff sehr wenig ist. Einen grossen Teil des Films habe ich mit einer der Kameras selbst gefilmt, um den Schnitt kümmerte ich mich zusammen mit drei anderen Cuttern, die vier Monate lang parallel an dem Film arbeiteten. Das Datum der Vorpremiere rückte immer näher und wir waren immer noch nicht fertig.

Man weiss nur sehr wenig über Hieronymus Bosch. Ihr Film bestätigt das. War das Geheimnis, das sein Leben umweht, der Motor für Ihre Nachforschungen?
Im Vergleich zu anderen Malern aus seiner Zeit war das Leben von Bosch ziemlich undurchsichtig. Mit Gewissheit kennen wir nur das Datum seines Todes. Hieronymus Bosch ist ein Rätsel, der Maler ebenso wie die Person. Der Film beschäftigt sich vor allem mit diesem Bild, das zu den bedeutendsten des Malers zählt. Falkenburgs Sichtweise brachte für mich Licht in das Mysterium der Faszination, die das Gemälde auf uns ausübt. Doch sie warf auch neue Rätsel auf. Wie wir wissen, war Bosch ein sehr konservativer Katholik, aber auch ein avantgardistischer Maler von grosser Modernität. Diese Tatsachen unterstreichen das Geheimnis, das ihn umweht.

Wie würden Sie Ihren Dokumentarfilm bezeichnen? Handelt es sich um eine Forschungsarbeit, einen Lehrfilm?
Wie der französische Regisseur und Biologe Jean Painlevé sagte, lautet das Erste Gebot für einen Filmemacher, nur Filme zu drehen, die ihn interessieren. Bei meiner Arbeit bemühe ich mich darum, Dingen und Menschen Ausdruck zu verleihen, vor allem weil sie mich interessieren. Hier versuche ich, dieses Gemälde zu verstehen und mehr über Bosch herauszufinden. Dieser Wissensdurst fliesst in meinen Dokumentarfilm ein. Am Ende sagt dieser auch etwas darüber aus, was dieses Triptychon für mich bedeutet. Und zugleich ist er ein Vermittler zwischen Betrachter und Gemälde. Er ist ein Schlüssel zum besseren Verständnis, mit dem man Zugang zu seinem Mysterium erlangt, sich mit ihm konfrontiert und es zu schätzen lernt. Wie der brasilianische Schriftsteller Nélida Pinon sagte, «müssen wir Wörter erfinden, um das Rätsel Hieronymus Bosch zu erklären.» In gewisser Weise muss auch ich einen Film erfinden, der wie ein gewöhnlicher Dokumentarfilm beginnt, um dann in andere, persönlichere Bereiche abzuzweigen.

Gingen Sie beim Versuch, die Visionen von Hieronymus Bosch zu entschlüsseln, wie ein «Archäologe der Bilder» vor?
Mein Vorgehen glich eher dem eines «Archäologen der Emotionen». Tatsachen und Daten interessierten mich weniger. Natürlich benötigen wir sie, wenn wir über ein Gemälde sprechen, und man muss dabei präzise sein. Doch vor allem fühle ich mich wie jemand, der Gedanken und Gefühle vermittelt. Ich bin ein Geschichtenerzähler, der die Geschichte und die Entdeckungen einiger «Archäologen des Bildes» erzählt.

Wie haben Sie Ihren Expertenkreis zusammengesetzt?
Ich wollte ein Gespräch zwischen Personen in Gang setzen, die über das Gemälde nachgedacht und gearbeitet haben. Es ging mir weniger darum, alle technischen Aspekte zu verstehen, noch die Theorien, die den Stil von Hieronymus Bosch erläutern. Ich wollte Personen versammeln, die scharfsichtige und spirituelle Fragen stellen und die mir, ebenso wie dem Zuschauer, eher zu einem besseren Zugang zu dem Gemälde verhelfen, als es mir zu erklären. In gewisser Weise habe ich mich einfach an Besucher des Prado-Museums gewandt, aber eben an etwas «spezielle» Besucher.

Wie haben Sie den Schriftsteller Salman Rushdie davon überzeugt, in ihrem Film mitzuwirken?
Wie für alle übrigen Teilnehmer organisierten wir für ihn einen privaten, nächtlichen Museumsbesuch. Er sprach über Bilder seiner Wahl. Im Übrigen ist auch in seinem letzten Roman von Bosch die Rede. Nachdem es geschlossen hatte, gehörte das Museum uns alleine. Eine fantastische Kulisse. Wir entfernten die Absperrungen, so dass Kamera und Gäste sich dem Gemälde ungehindert nähern konnten. Es war magisch.

Ihre Experten haben verschiedene Nationalitäten, die Sprachen vermischen sich und antworten aufeinander wie bei einer Symphonie, die die Überfülle des Gemäldes widerspiegelt. War das Ihre Absicht? Bosch ist weltberühmt. Seine Gemälde sind leicht zu erkennen, viel leichter als die anderer Maler. Ich wollte einen Film machen, der so international wie möglich ist und von einem Bild handelt, das weltweit Symbolkraft besitzt.

Wie haben Sie die Originalmusik Ihres Filmes ausgewählt?
Die Musik erleichtert es einem Regisseur, die Emotionen des Zuschauers zu lenken und sein visuelles Wahrnehmungsfeld zu erweitern. Die Bedeutung eines Gegenstands wird nicht verändert, erhält jedoch eine andere Farbe. Das Publikum nimmt ihn wie ein neues Gebilde wahr (oder erhält zumindest die Gelegenheit dazu), in dem die Musik ihren eigenen Platz einnimmt. Deshalb ist sie für mich genauso wichtig wie das Drehbuch. Ich habe von Anfang an mit Universal Music Spanien zusammengearbeitet, die mich in ihrem umfangreichen Katalog stöbern liessen. Ich fand darin Jacques Brel, ebenso wie Lana del Rey, Arvo Pärt, Bach und Elvis Costello. Die Originalmusik ist übrigens im Handel erhältlich. Die richtige Musik für einen Film zu finden, ist für mich immer ein schwieriger Schritt. In diesem Fall wollte ich keine Musik aus der damaligen Epoche verwenden. Ich wollte einen Soundtrack, der ebenso vielfältig und modern ist wie das Gemälde.

War sich das zum grössten Teil sprachlose Publikum der Anwesenheit der Kamera bewusst, als sie es vor dem Gemälde filmten?
Die Besucher waren so in Betrachtung versunken, dass sie zumeist nicht merkten, dass sie gefilmt wurden. Ich muss dazu sagen, dass ich mich ganz alleine mit einer kleinen Kamera zwischen der Menge und dem Gemälde versteckte. Das Mädchen, dessen Bluse mit farbigen Motiven aus dem Garten der Lüste bedruckt war, war ein glücklicher Zufall. Ich glaube, sie wusste gar nicht, dass die Abbildungen auf ihrem Hemd Kopien aus dem Gemälde von Bosch waren, und entdeckte das erst, während ich sie filmte. Sie war überrascht. Für mich ist dieses Bild die perfekte Metapher für ein Spiegelgemälde. Erst später baten wir die Leute, uns die Rechte an ihrem Bild abzutreten.

Wie haben Sie Narration und Struktur Ihres Film konzipiert?
Es stellen sich ja zahlreiche Verbindungen zwischen dem Gemälde von Bosch und den Gesprächen der Zuschauer ein, die zum Beispiel auf jene der Personen auf dem Gemälde reagieren. Wie uns das Buch von Falkenburg lehrt, wurde das Gemälde bei Hieronymus Bosch in Auftrag gegeben, um zu Beginn des 15. Jahrhunderts in Brüssel Stoff für die Diskussionen zwischen den Eliten des Herzogtums von Burgund und den Herzögen von Baarle- Nassau zu liefern. Unsere Absicht war es, dieses Gespräch im Heute fortzuführen und den Betrachter mit einzubeziehen. Und am Ende kann jeder Betrachter seine eigene Unterhaltung mit dem Bild führen. Und natürlich funktioniert das Gemälde wie ein Spiegel.

Wie man in Ihrem Film sehen kann, inspiriert das symbolkräftige Triptychon von Hieronymus Bosch Schriftsteller ebenso wie Musiker oder Sänger. Wie erklären Sie sich das?
Es ist ein gewaltiges Kunstwerk, und selbst wenn sie es nicht verstehen, sind die Menschen, die vor ihm stehen, von diesem Meisterwerk berührt. Wie Salman Rushdie im Film sagt, ist dieses Triptychon sehr modern. Es zieht seinen Betrachter in Bann. Alle seine Farben – die blauen und rosa Pastelltöne –, die Phantasien, die es auslöst, sein undurchdringliches Rätsel tragen zu seiner grossen Anziehungskraft bei. Zunächst verführt und verzaubert der Maler den Betrachter. Das ist der erste Schritt. Einmal angezogen, kann der Betrachter in das Gemälde eintreten. Natürlich werden viele Menschen nie eintreten, aber sie können seine Anlage erspüren und sich einbezogen fühlen.

Bildet «Der Garten der Lüste» Ihrer Ansicht nach die Geschichte der Menschheit ab?
Ja. Insofern als das Christentum eine Geschichte braucht. Die Geschichte jeder einzelnen Seele bestimmt über Heil oder Verdammnis. Bosch hat eine christliche Menschheitsgeschichte gemalt und zugleich die Geschichte jedes einzelnen Menschen. Wie der russische Filmemacher Andrej Tarkowsij sagte, besteht die Geschichte nicht aus Zeit und Fortschritt, sondern aus Konsequenzen. Die Zeit ist ein Zustand, die Flamme, in der der Feuergeist der menschlichen Seele lebt. Das Unendliche kann nicht mit Worten ausgedrückt, ja nicht einmal beschrieben werden, doch es kann durch die Kunst erfasst werden, so dass es greifbar wird. Das Absolute ist durch den Glauben und den schöpferischen Akt zugänglich.

War es Ihr Ziel, das Rätsel dieses Triptychons nicht etwa zu lösen, sondern – wie es einer Ihrer Experten am Ende des Films ausdrückt – es zu bewahren?
Der Auftrag eines jeden Künstlers ist es, das Rätsel noch zu vertiefen. Bosch wusste das sehr genau. Wie Michel Onfray im Film sagt, verfügt nur die Kunst über die Fähigkeit, die Seele des Menschen durch Schock und Katharsis für das Gute empfänglich zu machen. Es wäre lachhaft, zu glauben, dass man den Menschen beibringen könnte, gut zu werden. Nur die Kunst kann das Material, den Anstoss und die Gelegenheit für eine seelische Erfahrung liefern, die wiederum selbst ein Rätsel aufwirft. Wir alle lieben Rätsel, wir brauchen sie. Es ist viel interessanter, ein Rätsel zu erkunden, zu überdenken und zu diskutieren, als es zu lösen. Denn was bleibt, wenn es einmal gelöst ist?