HEIMATLAND
Anmerkungen der Projektinitiierenden
In den letzten Jahren hat sich in der wohlbehüteten Schweiz vieles
verändert: Die Festung des Bankgeheimnisses ist gefallen und die
politische Zauberformel wurde geknackt. Und am Ende des Wahlsonntags
folgt stets das böse Erwachen: Absurde Initiativen werden angenommen,
Menschenrechte und humanitäre Werte fallen gelassen – zugunsten
einer immensen Käseglocke, in der uns der langsame Erstickungstod
droht.
Inmitten dieser gesellschaftlichen Umbrüche und Veränderungen
wollten wir einen möglichst unverstellten und persönlichen
Blick auf unser Land wagen. Einen Blick, der keine Analyse der aktuellen
Politlandschaft darstellt, sondern hinter die sauber geputzte und immer
frisch renovierte Fassade von Schweizer «Ideologien» schauen
will. Uns interessieren die Menschen, die diesem Land ein Gesicht geben
und es so zu dem machen, was es ist. Die Schweiz ist nicht bekannt für
ihre Selbstreflexion, trotzdem oder vielleicht gerade deshalb wollten
wir das Wagnis eingehen.
So groß unsere Ideen und Pläne waren, immer wieder fluchte
einer von uns beiden: «Heimatland!». Es ist nicht einfach.
Sobald man sich mit einem komplexen Konstrukt wie einem Staat beschäftigt,
vermischt sich das Persönliche mit dem Politischen. Jeder verbindet
etwas anderes mit seiner Heimat, diesem Land, unserem Staat, den manche – ganz
ohne zu fluchen – Heimatland nennen. So entstand die Idee, nicht
alleine, sondern in einer Gruppe von Filmschaffenden, die alle etwa am
selben Punkt ihrer Entwicklung stehen, einen gemeinsamen Film zu drehen.
Die unterschiedlichsten Gesichter unseres Landes sollten nebeneinander
gestellt werden und so eine Viel- schichtigkeit ergeben, die erahnen
lässt, was uns alle verbindet.
Aus diesem Wunsch heraus erwuchs eine Rahmenhandlung, welche die einzelnen
Filme inhaltlich zusammenhalten sollte: der aufziehende Sturm, der drohende
Untergang der Schweiz und die Angst davor. Wir begannen uns durch die
junge Schweizer Filmszene zu telefonieren und erzählten von unserer
Idee. Was wir als ein steiniges Herantasten befürchtet hatten, entpuppte
sich als bereicherndes Kennenlernen. Rasch entwickelten sich intensive
und engagierte Gespräche, die uns spüren ließen, dass
dieses Projekt bei unseren KollegInnen auf großes Interesse stößt.
Alle erkannten die Notwendigkeit, diesen Film zu realisieren. Innerhalb
der nächsten Monate trafen bei uns dreiundzwanzig Exposés
ein. Wir waren begeistert.
Als wir uns in der jetzt bestehenden Konstellation zum ersten Mal in
einer Alphütte trafen, weit weg von der Zivilisation, waren wir
von unserem eigenen Mut überrascht. Doch wir standen erst am Anfang
der Arbeit. In mühsamen, basisdemokratischen Diskussionen, immer
wieder unterbrochen von kurzfristigen, diktatorischen Putschversuchen,
wurden die Grundpfeiler des Films und die neun finalen Geschichten gemeinsam
erarbeitet. Immer mit dem Ziel, eben keinen von diesen berühmten «Schweizerischen» Kompromissen
anzustreben, sondern etwas zu wagen. Ein Unterfangen, das mit zehn RegisseurInnen
aus zwei verschiedenen Sprachregionen nur als Quadratur des Kreises bezeichnet
werden kann.
Jetzt ist der Kreis ein Viereck und das Resultat erbracht. In unseren
Augen ist HEIMATLAND ein politischer Film. Denn Politik passiert heute
nicht mehr mit bunten Transparenten an Sitzstreiks. Wir sind nicht Teil
einer Bewegung, geschweige denn einer Partei. In einer Zeit, in der Revolutionen
nur noch historische Referenzen darstellen, besteht Politik für
uns darin, gut hinzuschauen, das eigene Verhalten kritisch zu hinterfragen
und die Gesellschaft herauszufordern.
Michael Krummenacher & Jan Gassmann, Projektinitiierende Regisseure
Interview mit den Machern
WIESO BRAUCHT ES HEIMATLAND?
TOBIAS NÖLLE
Damit wir sehen, was passiert, wenn der Sturm kommt. Und der Sturm wird
kommen: oh Schweiz, du Hure Babylons.
LISA BLATTER
Im Schweizer Film muss sich etwas ändern. Es braucht mehr Filme
mit einer Haltung. HEIMATLAND ist einer davon.
GREGOR FREI
Ja, es braucht mehr Filme, die sich schonungslos und frei von Gefälligkeit
mit schwierigen Themen auseinandersetzen. Die ambivalente Figuren zeigen,
ohne sie in eine bestimmte Ecke zu stellen. Die Bedrohung im Innern und
Eigenen suchen, nicht im Äußeren und Fremden.
MICHAEL KRUMMENACHER
HEIMATLAND ist aber keine moralische Handlungsanweisung zu einer besseren
Schweiz, sondern ein Film, der die Zuschauer zum Nachdenken anregt – über
unser Land und ihr eigenes Verhalten.
CARMEN JAQUIER
Dieses gemeinsame Arbeiten zwischen französischen und deutschen
Schweizern ist sehr bereichernd. Es ist wichtig, noch von einem Kollektiv
träumen zu können, von einem Projekt, dass mehrere Visionen
trägt, da wir Filme brauchen, die ein wenig verrückt sind und
sich nicht einschläfern lassen, von einen Produktionssystem, das
auf Konformität drängt.
LIONEL RUPP
In der Schweiz ist nicht die mangelnde Pressefreiheit das Problem, das
liegt viel tiefer. Es gibt eine allgemeine Tendenz der Selbstzensur.
Wir mussten uns sehr anstrengen, um aus diesem Befriedungsschema rauszukommen.
Das ist zwangsläufig sehr schwierig in einem Land, das sich als
Vorbild sieht. Dieser Film ist also sehr wichtig, um zu zeigen, dass
es eine neue Generation von Filmemachern gibt, die ihr Land so zeigen,
wie es ist oder in ihrer Vorstellung sein könnte.
WAS SIND DIE KERNTHEMEN VON HEIMATLAND?
BENNY JABERG
Neben der Isolation der Schweiz vom Ausland sehe ich aber auch die Isolation
von unseren Mitmenschen als Thema: Die drohende Selbstentfremdung in
einem übersaturierten, manchmal allzu bequemen Land. Der mitunter
abstruse, in Teilen groteske Siegeszug des vermeintlichen Individualismus – der
durch die sozialen Medien befeuert wird – bricht dem einsamen
Tanz eines jeden um sich selbst Bahn. Egozentrismus allenthalben, Solidarität
und Empathie nur wenn man gerade Zeit dafür hat. Wenn überhaupt.
Dazu die schleichende und zuletzt immer deutlicher werdende Hetze der
Rechten, die immer pointierter und gefährlicher zutage tritt und
die stoisch gewachsene Demokratie und das soziale Zusammenleben der
Schweiz – befeuert durch viel Geld und somit teils erkaufter
Macht – unter dem Deckmantel eines vermeintlichen Patriotismus
bedroht.
WAS WAR DIE GRÖßTE HERAUSFORDERUNG BEIM MACHEN DIESES FILMS?
GREGOR FREI
Den Anforderungen des Gesamtfilms gerecht zu werden, ohne die eigene
Handschrift zu vernachlässigen. Es war schnell klar, dass wir
keine Aneinanderreihung von Kurzfil- men wollten. Gleichzeitig wollte
ich etwas Persönliches gestalten, mit klarer Farbe und Ausrichtung.
Das Ausbalancieren von persönlichen Vorstellungen und der Rücksichtnahme
auf den Gesamtfilm erschwerte die Arbeit am Drehbuch. Ich kam mir vor
wie ein Fußballspieler, der die Aufgabe erhält, sich alleine
durchzudribbeln, dabei aber ständig von den Mitspielern aufgefordert
wird, endlich abzuspielen.
IVAN MADEO
Es war die Quadratur des Kreises: Einen Kollektivfilm zu machen, ohne
Kompromisse einzugehen. Unmöglich eigentlich. Aus diesem Grund
ist unser Film auch nicht rund, sondern eckig geworden.
JAN GASSMANN
Stichwort Isolation: Wir sind gezwungen, immer mehr zu Schweizern zu
werden, und damit meine ich nicht nur die permanenten Flaggen, die überall
auftauchen – nein wir verlieren auch den Bezug zu Europa, auch
wenn wir im Kern wohnen und drei Sprachregionen verbinden. Wir distanzieren
uns von der Außenwelt, von der wir aber leben, mit der wir unseren
Reichtum erwirtschaftet haben.
TOBIAS NÖLLE
Kompromisse sind der größte Feind der individuellen Stimme
und Handschrift. In diesem Rahmen sich und seiner Vision trotzdem treu
zu bleiben, war etwa so schwierig, wie ein Iglu in der Sahara zu bauen.
Zum Glück tranken wir ab und zu auch Schnaps und sangen Lieder in
Herrn Gassmanns Küche.
CARMEN JAQUIER
Da gibt es wirklich Unterschiede im Denken und Machen zwischen den romanischen
und den deutsch-schweizerischen Filmemachern. Zuerst hat mich das überrascht,
sogar enttäuscht, ich glaubte, dass unsere Generation uns verbinden
müsse. Aber schlussendlich macht das die Komplexität und
den Reichtum des Projekts aus. Das hat mich dazu gezwungen, mich und
was ich aus mir in der Schweiz mache, zu hinterfragen. Diese Erforschung
der Identitätsfrage war sehr spannend.
WIE SCHWIERIG WAR DIE ARBEIT IM SPANNUNGSFELD ZWISCHEN KOLLEKTIVWERK
UND INDIVIDUELLER VISION?
JAN GASSMANN
Ich denke, dass dieser Kollektivfilm uns als Menschen sehr herausgefordert
hat. In der Kommunikation, aber auch in unserer Streitkultur. Das Ziel
war es nicht, jeweils einen Kompromiss zu finden, sondern eine starke
Lösung. Das war oft sehr anstrengend und eine Lektion in Demokratie
für uns alle. Man denkt für das Ganze, das war unser oberstes
Ziel, aber trotzdem will man seinen Figuren gerecht werden, der Welt,
die man im Drehbuch geschaffen hat.
LIONEL RUPP
Das Schwierigste an der Zusammenarbeit waren für mich nicht die
verschiedenen Visionen, sondern die unterschiedliche Bereitschaft der
Beteiligten, sich auf den Gesamtfilm einzulassen.
LISA BLATTER
Für mich war HEIMATLAND eine Art politischer Arena. Wenn es während
unserer Arbeitstreffen die Aufgabe von Michael und Jan war, Meditationsanweisungen
zu geben, war es unsere Rolle, Ideen ohne Konzessionen zu entwickeln.
HEIMATLAND war sozusagen eine Art «Bundeshuus». Das ist übrigens
eine zeitgenössische Bewegung, die wir genau beobachten: die erneute
Politarisierung der Kunst und in diesem Sinne ist HEIMATLAND im Einklang
mit der Gegenwart.
STEFAN EICHENBERGER
Da es unmöglich war, alle individuellen Wünsche der Regisseure
zu berücksichtigen, gab es unzählige Tränen, Vorwürfe
und Wutausbrüche. Die gingen natürlich nicht spurlos an uns
vorbei. Doch da wir keine Angst davor hatten, mit diesem Projekt auch
grandios zu scheitern, konnten wir alle Schwierigkeiten irgendwie meistern.
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