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Interview mit Annette K. Olesen

Ihr Filmprojekt begann lange vor dem Karikaturenstreit. Warum wollten Sie einen Film über Angst vor Fremden drehen?
Annette Olesen: Weil sich unsere Gesellschaft aufgrund der Terroranschläge des 11. September, in London und anderswo im Westen stark verändert hat. Menschen werden vorsichtiger, wenn sie auf der Straße laufen, im Zug fahren oder fliegen. Wir haben irgendwie unsere Unschuld verloren. Es ist sehr wichtig, diese Unschuld zu bewahren und das Vertrauen in Menschen fremder Kulturen, denen wir begegnen, nicht zu verlieren. Sonst ist keine Kommunikation mehr möglich.

Die konkrete Idee zu diesem Film entstand durch ein Radio-Feature über eine dänische Mutter in einem Immigranten-Stadtteil, deren Sohn angegriffen wurde?
Olesen: Eines Tages hörte ich im Radio die Geschichte über den Jungen, der innerhalb von Kopenhagen, nicht in einem Vorort, mit dem Messer attackiert wurde. Seine Mutter arbeitete in einem Kindergarten mit 80 Prozent fremdsprachigen Kindern und lebte immer schon in diesem Viertel. Die Mutter und der Sohn, der überlebt hatte, sowie sein türkischer Freund wurden interviewt.
All die Gedanken, die sie nach diesem Angriff beschäftigten - etwa: Sollen wir umziehen? - bildeten die Basis des Films. Im Gegensatz zum Radiobeitrag wollten wir, dass Per im Koma bleibt, weil die Unsicherheit über den Angriff im Film die Spannung bis zum Ende hält, und Vorurteile und Gerüchte die Beteiligten weiter verunsichern. Dramatisch wirkte es für uns, dass Per im Film nicht in der Lage war, zu erzählen, was mit ihm eigentlich geschehen war.

Ihr Film heißt "1:1". Können Sie den Titel erklären?
Olesen: Die Botschaft des Films ist, dass die Menschen, die am wenigsten mit dem Konflikt zu tun haben - im Film ist es die Oma, die in einem Dorf lebt - die größte Angst haben. Wir fanden heraus, dass es leichter ist, die Angst zu überwinden, wenn man nah am Konflikt ist. Unsere Botschaft lautet: Sprecht mit Menschen. Wir warnen auch davor, Menschen in Gruppen einzuteilen und danach zu beurteilen. Das ist gefährlich. Man muss Menschen als Individuen betrachten.
Das mussten auch Sie als Filmemacherin tun, um arabischstämmige Schauspieler rekrutieren zu können?
Olesen: Um palästinensische Darsteller zu finden, mussten wir Laiendarsteller in Organisationen und Vereinen suchen, weil keine professionellen Schauspieler arabischer Herkunft registriert sind. Es war sehr schwer, sie zu überreden, weil sie eine sehr schlechte Meinung über die Medien haben.

Was haben Sie durch die Dreharbeiten über Palästinenser gelernt?
Olesen: Ich habe viel über ihr Leben in Dänemark gelernt und dass der jetzige Konflikt nicht nur kulturell, sondern vor allem sozial geprägt ist. Wir haben eine neue Arbeiterklasse geschaffen, die aus Immigranten besteht. Das müssen wir verstehen, um die Probleme anpacken zu können.

Was hat der Karikaturenstreit in Dänemark ausgelöst?
Olesen: Die große Mehrheit der Dänen ist der Meinung, dass dieser Streit außer Kontrolle geraten ist und Dänemark zu spät reagiert hat. Daher habe ich zusammen mit einer Freundin, deren Eltern aus Marokko stammen, eine Demonstration in Kopenhagen organisiert. Wir wollten ethnische Dänen mit ethnischen Minderheiten zusammenbringen, die für einen respektvolleren, zivilisierteren und demokratischen Dialog mit den Einwanderern in Dänemark plädieren. In drei Tagen gelang es uns, 3.000 Menschen in Kopenhagen auf die Straße zu bringen, darunter auch Moslems und Juden.

Warum ist der Konflikt um Immigranten in Dänenmark besonders brisant, obwohl der Anteil der Ausländer hier nur 6,8 Prozent beträgt?
Olesen: Im Vergleich zu Großbritannien und den USA ist die Einwanderung nach Dänemark ein relativ neues Phänomen. Vor 30 Jahren haben sich die Menschen in Kopenhagen auf der Straße umgedreht, wenn sie einen Schwarzen gesehen haben, weil es so ungewöhnlich war. Aber wir leben in einer globalisierten Welt und können dies nicht ändern. Wir sind verpflichtet, Menschen aufzunehmen, die in ihrer Gesellschaft nicht leben können. Wir als Dänen haben es versäumt, die zukünftigen Konflikte zu erkennen, die durch eine multikulturelle Koexistenz entstehen. Daher war es leicht für die nationalistische Dänische Volkspartei, sich zu profilieren und die Tagesordnung zu bestimmen.

Wie würden Sie die aktuelle Stimmung in Dänemark beschreiben?
Olesen: Seit einigen Jahren herrscht eine große Spannung. Ich hoffe, dass die Ereignisse um den Karikaturenstreit uns wachrütteln. Ich hoffe, dass wir verstehen: Gewalt führt uns nirgendwohin. Ein Dialog ist hingegen notwendig. Dänemark ist ein kleines Land, knapp über fünf Millionen Menschen leben dort. Wir können solche großen Spannungen nicht aushalten.

Mit Annette Olesen sprach Igal Avidan von der Netzeitung.de anlässlich der Berlinale 2006