EIN
GEHEIMNIS
Interview mit Regisseur Claude Miller
Wie haben Sie den Roman „Ein Geheimnis“ entdeckt, auf
dem der Film basiert?
Seit unserer ersten Zusammenarbeit im Jahr 2000 versorgt mich der Produzent
Yves Marmion („Betty Fisher et autres histoires“) regelmäßig
mit lesenswerten Romanen. Auf diese Weise bin ich zu dem Buch von Philippe
Grimbert gekommen, das mir von Yves Marmion wärmstens zur Lektüre
empfohlen wurde. Er hat auch durchblicken lassen, dass UGC an einer Adaption
interessiert sein könne. Ich habe „Ein Geheimnis“ also
sofort gelesen und am Abend stand meine Antwort an Yves fest: Ja, ich
möchte diese wunderbare Geschichte im Kino erzählen!
Was war der Auslöser für Sie?
Wenn man von Opfern aus der Nazi-Zeit spricht, hat man oft den Eindruck,
dass es sich dabei nicht um normale Menschen wie du und ich handelt:
Menschen, die Liebesgeschichten erlebt und Leidenschaft erfahren haben.
Aber gab es nicht auch eher persönliche Gründe?
Ich bin 1942 geboren. In meiner Familie gibt es nicht viele Überlebende:
Viele meiner Onkel, Tanten und Großeltern sind aus den Konzentrationslagern
nicht zurückgekehrt. Als Kind und später als Jugendlicher haben
mich diese traumatischen und grauenerregenden Geschichten verfolgt und
ich habe Ängste und Phobien entwickelt. Ich war ein furchtsames
Kind, aber das ist wohl normal, schließlich hatte meine Mutter
schon in der Schwangerschaft Ängste. Komischerweise habe ich in
keinem meiner bisherigen Film das Thema angesprochen. Das ging so weit,
dass selbst in L’ACCOMPAGNATRICE, ein Film, der während des
Zweiten Weltkriegs spielt, dieses Thema völlig ausgeklammert wurde.
War das ein Tabu-Thema?
Nein, aber das Thema gehörte nicht zu meinen dringendsten Anliegen
als Filmemacher. Ich bin dem Beispiel meiner Familie gefolgt, die alle
nichtpraktizierende Juden sind. Ich hatte das Gefühl, dass die Roman-Adaption
von Philippe Grimbert die Gelegenheit für eine Würdigung meiner
Familie und ihrer Geschichte sein könnte. Umsomehr, als wir beide
dem gleichen sozialen Milieu entstammen, weder Bourgeoisie noch Proletariat.
Unsere Eltern waren kleinbürgerlich, Geschäftsleute und europäische
Juden.
Wollten Sie diese Periode auch aus einem politischen Blickwinkel betrachten?
Eher soziologisch als politisch. Es gibt einen Aspekt in dem Roman, die
mich sehr interessiert. Philippe Grimbert beschreibt sehr schön,
wie in den 30er Jahren ein wahrhafter Körperkult entstanden ist,
ein Kult der körperlichen Schönheit und des Sports, noch
bevor Pétainisten und Nazis diesen später für sich
beanspruchten. In meinem weltlichen, jüdischen Milieu kultivierte
man diesen Trend sehr eifrig: Es ging darum, eine gewisse Wehleidigkeit
zu bekämpfen, die man den Juden zuschrieb; die Neigung, sich zu
beklagen, zu verzichten, zu wenig zu trainieren, um sich gegebenenfalls
verteidigen zu können. Mein Vater, wie auch Maxime im Film, warf
mir meine körperliche Trägheit vor, ich verbrachte die meiste
Zeit mit Lesen. Er hatte Angst, ich könnte zu den sogenannten
Schafen gehören, die sich ohne Widerstand auf die Schlachtbank
führen lassen. Deshalb interessierte mich das Thema sehr.
Kommen wir auf die Vorbereitungen zum Film zurück: Sie führten
ein ungewöhnliches Casting für Drehbuchautoren durch. Weshalb?
Stimmt, dieses Vorgehen ist wenig verbreitet. Für zwei oder drei
meiner neueren Filme schrieb ich das Drehbuch selbst. Diese Einsamkeit
beim Schreiben gefiel mir gut. Das adaptierte Buch war in diesem Fall
mein Arbeitspartner. Aber bei EIN GEHEIMNIS hatte ich das Bedürfnis,
mit einem Co-Autor zu sprechen, weil alles filmisch umgesetzt werden
musste: Der Roman wird in der Ich-Form erzählt, es fehlen Dialoge,
der Autor teilt uns seine Gedanken mit, die sich ständig verändern.
Die filmische Adaption war also eine große Herausforderung für
den Drehbuchautor. Alle angesprochenen Themen gefielen mir, aber ich
wusste, dass ich eine wirkliche Filmversion finden musste. Ich machte
mich also auf die Suche nach einem Drehbuchautor und bat fünf oder
sechs, darunter auch Natalie Carter, um eine erste Adaptionsversion.
Warum haben Sie sich für Natalie Carter entschieden?
Wir hatten noch nie zusammengearbeitet, aber ich schätzte ihre Adaption
des Romans von Romain Gary, „Lady L“. Ich spürte bei
ihr sofort eine große Menschlichkeit und Empathie für alle
Figuren. Sie ist keine Jüdin und das fand ich wichtig, damit beim
Schreiben des Drehbuchs kein Selbstmitleid aufkommen konnte. Und schließlich
brachte Natalie einen unverzichtbaren weiblichen Aspekt in die Geschichte,
in der Frauen eine tragende Rolle spielen. Außerdem sind wir auf
gleicher Wellenlänge und arbeiten harmonisch zusammen.
Die Szenen aus der Vergangenheit sind in Farbe, die aus der Gegenwart
in Schwarz-Weiß: Wie kam es zu dieser besonderen und ungewöhnlichen
Entscheidung?
Bei Filmen, die in verschiedenen Zeiten spielen, besteht immer die Versuchung
des sogenannten Farbcodes. Man entscheidet sich beispielsweise bei allen
Vorkriegsszenen für Sepia. Diese stilistische Frage stellte sich
natürlich auch bei EIN GEHEIMNIS, aber ich schob ihre Beantwortung
immer wieder auf! Ich drehte also den ganzen Film in Farbe und kam dabei
nie auf die Idee, die Szenen aus der Gegenwart in Schwarz-Weiß zu
zeigen. Darauf kam ich erst, als wir mit dem Schnitt begannen und ich
diese Passagen in Schwarz-Weiß wollte. Dadurch übernahm ich
unbewusst eine Stilfigur des Romans: Alles, was in der Gegenwart geschieht,
wird in der Vergangenheitsform und alles, was in der Vergangenheit geschieht,
wird in der Gegenwartsform geschrieben. Übrigens war es Philippe
Grimbert, der als Erster auf diese Parallele zwischen Buch und Film hinwies.
Den nackten Körpern der Liebenden im Film entsprechen die abgemagerten
und gepeinigten Körper der Naziopfer auf Archivbildern. Erfolgte
diese Gegenüberstellung der Bilder willentlich?
Nein. Die Bilder sollten nicht gegeneinander ausgespielt werden, aber
sie sind da und beschäftigen uns. LA PASSAGÈRE von Andrezj
Munk ist einer der Filme über den Holocaust, der mich am meisten
beeindruckt hat; er spielt in Auschwitz. Die Thematik Scham und Schamlosigkeit
der Körper bildet den Kern dieses sehr schönen und beeindruckenden
Films. In einer Szene meines Films – die genau einer Romanszene
entspricht – sieht man die Körper von Deportierten. Das konnte
man meiner Meinung nach nur mit Archivbildern darstellen, nämlich
mit denen, die man in der Nachkriegszeit in Schulen zeigte, um den Terror
des Nationalsozialismus vor Augen zu führen. Die leidenschaftlichen
Liebesszenen dagegen sind nicht skandalös, wenn man den chronologischen
Kontext der Geschichte bedenkt: Das ehebrecherische Paar, das Cécile
de France und Patrick Bruel bilden, weiß nichts von den Vernichtungslagern
und dem Holocaust. Es geht um unsere heutige Sicht der Dinge, nicht um
die Wirklichkeit, wie sie die Protagonisten damals erlebt haben. Dieses
Aufeinanderprallen von Blicken und Bewusstsein, zwischen Vergangenheit
und Gegenwart, ist meines Erachtens besonders interessant.
Ein weiteres Thema, das in vielen ihrer Filme vorkommt, ist das Schwimmbad!
Warum spielt dieser Ort ein so bedeutende Rolle?
Unabhängig von meiner eigenen Welt spielt das Schwimmbad eine zentrale
Rolle in dem Roman, da Tania (Cécile de France) ein ehemaliger
Schwimm-Champion ist. Aber es stimmt, dass dieser Ort mir keine Ruhe
lässt aufgrund meiner schlechten Kindheitserfahrungen. Wie bereits
erwähnt fand mein Vater – und auch Maxime im Buch und im Film
-, dass ich nicht sportlich genug sei. Er nahm mich schon sehr früh
ins Schwimmbad mit, damit ich Schwimmen lernte. Offenbar zu früh,
denn von da an hasste ich das Schwimmbad. Diese Hassliebe hielt sich
viele Jahre. Später ließ ich diese kindlichen Phobien in meine
Filme einfließen, und so wurde das Schwimmbad zu einem Angst einflößenden,
gefährlichen, feindseligen Ort.
Gab es während der Dreharbeiten besonders ergreifende Szenen für
Sie?
Ja. In der Szene, in der der Erzähler (Mathieu Amalric) Serge Klarsfeld
begegnet und definitiv und offiziell eine Verbindung zur Geschichte seiner
Familie herstellt. Zum ersten Mal in meinem Leben als Filmemacher war
ich von einer Szene, die ich soeben gedreht hatte, dermaßen ergriffen.
Ein weiteres Mal war ich zu Tränen gerührt, als wir beim Schnitt
zu der Szene kamen, in der Hannah (Ludivine Sagnier) zum ersten Mal auftritt.
Wie haben Sie die beiden Kinder gefunden, die in dem Film eine wesentliche
Rolle spielen?
Die größte Schwierigkeit war, zwei Kinder für dieselbe
Rolle zu finden: die des zukünftigen Erzählers, einmal als
Siebenjähriger, einmal als Vierzehnjähriger. Ich hatte aber
das Glück, mit Elsa Pharaon eine hervorragende Castingdirektorin
zu haben. Sie castete ca. 200 Kinder, von denen ich etwa 20 vorsprechen
ließ, d.h. eine klassische Vorgehensweise, um die endgültige
Besetzung zu finden. Die Wahl des anderen Kindes, Simon, der im Film
Ludivine Sagniers Sohn verkörpert, war schwieriger: Er musste unbedingt
sportlich sein und verschiedene Übungen beherrschen. Wir fanden
Orlando Nicoletti in einem Kinderturnverein, wo er für Wettkämpfe
trainierte. Er hatte zudem den Vorteil, seinem Filmvater Patrick Bruel
tatsächlich ähnlich zu sehen.
Letzterer verkörpert im Film den Vater des Erzählers. Sie
hatten noch nie mit Patrick Bruel gearbeitet. Wie sind Sie auf ihn gekommen?
Eine eigenartige Geschichte! Während ich ein Casting für das
Drehbuch machte, tat Philippe Grimbert dasselbe für den Regisseur!
Sofort nach Veröffentlichung des Romans interessierten sich zahlreiche
Produzenten, Filmemacher und Schauspieler dafür, ihn auf die Leinwand
zu bringen. Und von Anfang an kursierte der Name Patrick Bruel, so dass
man ihm den Roman zu lesen gab. Eines Tages saßen wir zusammen
beim Essen und sprachen schließlich auch über EIN GEHEIMNIS.
Sehr schnell – noch bevor ich die Adaption schrieb – überzeugten
mich seine künstlerischen Qualitäten; und seine Leistung in
FORCE MAJEURE von Pierre Jolivet und in LE LAIT DE LA TENDRESSE HUMAINE
von Dominique Cabrera hatte mich sehr beeindruckt. Aber es gab auch wichtige ästhetische
Gründe. Die von ihm verkörperte Figur, Maxime, altert im Lauf
der Erzählung von 35 auf 70 Jahre. Und Patrick hat das Glück,
ein junges Gesicht zu haben! Er hat, wie die Engländer sagen, ein „Baby
Face“.
Auch mit Cécile de France arbeiteten Sie zum ersten Mal ...
Ja, und ich habe meine Wahl nie bereut! Im Roman wird Tania als eine
wunderbare, athletische und verführerische Frau beschrieben. Beim
Lesen hat sie mich sofort an einen Film erinnert: Gene Tierney in PECHE
MORTEL von John M. Stahl. Beim Casting, noch vor Fertigstellung des
Drehbuchs, fiel der Name Cécile de France. Nach der ersten Begegnung
wusste ich, dass sie eine perfekte Tania abgeben würde. Cécile
vereint zwei Eigenarten der Figur: Sie ist wunderschön und zugleich
zugänglich, „the girl next door“, wie die Amerikaner
sagen.
Mit Ludivine Sagnier waren Sie beruflich bereits verbunden und führen
diese Zusammenarbeit nun fort ...
Ja, sie war klasse in LA PETITE LILI. Für EIN GEHEIMNIS wünschte
ich sie mir unwiderstehlich, aber nicht so verführerisch wie Cécile
de France. Ich beschrieb ihr die Rolle der Hannah, indem ich ganz einfach
sagte: „Sie ist genau so entzückend wie du und bemüht
sich gar nicht besonders darum, so zu sein.“
Und Julie Depardieu?
Für die Rolle der Louise dachte ich sofort an sie. Erstens, weil
sie wie Patrick verschiedene Lebensalter sehr gut darstellen kann. Und
zweitens, weil Louise in erster Linie eine Frau aus dem Volk ist und
Julie für mich das weiterführt, was früher für Arletty
so typisch war: eine wunderbare Mischung aus Volksweisheit, Charme, Humor
und Spott.
Nun zum Abschluss nach französischer Tradition noch ein Lied! Der
Film wird untermalt von einem Lied von Charles Trénet. Weshalb
diese Wahl?
Ich wollte die Melodien kennenlernen, die in der Vorkriegszeit im Radio
ausgestrahlt wurden und hörte mir viele Lieder aus der Zeit an.
Aber ich wollte dieser Stimmung nicht zu viel Gewicht verleihen. Doch
das Lied „Tout ça c’est pour nous“, das Trénet
während der Besetzung geschrieben und gesungen hatte, gefiel mir
gut. Es ist zugleich schön und beunruhigend, weil es so leicht daherkommt
und das in einer so harten Zeit. Es symbolisiert das, was auch der Film
schildert: viel Glück und viel Unglück.
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